„Auf okaye Art ignorant“

Hexen, Baptisten, Zeugen Jehovas – mit unersättlicher Neugier hat Gideon Böss ein Jahr lang verschiedenste Glaubensgemeinschaften in ganz Deutschland besucht. Er hat heilige Schriften studiert, Hochzeiten, Priesterweihen und magische Rituale mitgefeiert und eine Menge kritische Diskussionen geführt. Das Ergebnis ist eine tiefgründige und überaus unterhaltsame Erkundung deutscher Glaubenswelten.

Herr Böss, wie sind Sie auf die Idee gekommen, eine Reise in deutsche Glaubenswelten zu unternehmen?
Ich fand das Thema Religion schon immer interessant. Diese Mischung aus Geschichte, Liturgie, und Mythologie, die oft so ins Fantasyhafte geht.

Sind Sie denn selbst religiös?
Nein, überhaupt nicht. Meine Familie ist ganz areligiös. Nicht religionsfeindlich, es ist einfach nicht unser Ding. Deshalb hat es mich immer fasziniert, dass für Menschen etwas so extrem wichtig sein kann, das gleichzeitig so irrational ist. Auslöser für meine Recherche war schließlich die Geschichte eines Familienvaters in Sachsen, der eines Tages beschlossen hat, dass er Gott ist. Geschichten von so wahnsinnigen Religionstypen kannte ich bis dahin nur aus Amerika.

In ihrem Buch beschreiben Sie 26 religiöse Gruppen. Wie haben Sie die Gemeinden ausgesucht?
Mein Ziel bei der Auswahl war, dass man einen Überblick erhält, was es für eine Bandbreite an Religionen gibt und zwar unabhängig davon, wie groß oder einflussreich sie sind. Bei den Hexen zum Beispiel sind es vielleicht 300 Leute in Deutschland, die das ernsthaft betreiben.

Und Hexentum ist tatsächlich eine Religion? Wie haben Sie Religion definiert?
Ich war da ziemlich großzügig, für mich reicht es aus, wenn Leute sich in einer Gruppe organisieren, die für sie Antworten gibt auf die Grundfragen „Wo kommen wir her?“, „Wo geht es hin?“ und „Warum sind wir hier?“.

„65 Prozent aller Deutschen sind in einer Religion organisiert“ heißt es in ihrem Buch. Bezieht sich die Zahl auf den eben beschriebenen Begriff von Religion?
Die Zahl erfasst eher die klassischen Religionen. Die katholische und evangelische Kirche haben in Deutschland ein extremes Monopol. Wenn das normale Unternehmen wären, würde das Kartellamt die sofort zerschlagen.

Kann man anhand der Vielfalt von Glaubensgemeinschaften ablesen, wie in Deutschland mit Diversität umgegangen wird?
Ich habe den Eindruck, dass die Deutschen auf eine völlig okaye Art ignorant sind gegenüber dem Großteil aller religiösen Angebote. Noch vor zwei Generationen sind ganze Beziehungen daran gescheitert, dass der Partner der falschen der beiden christlichen Großkirchen angehörte. Heute müssen junge Leute lange nachdenken, ob ihr Partner überhaupt getauft ist. Der Glauben ist schlicht keine relevantes Auswahlkriterium mehr.

Sie sind allen Gruppen mit der gleichen neugierigen und respektvollen Haltung begegnet.
Ja, ich habe ihnenallen zugebilligt, dass sie recht haben. Ich glaube es persönlich nicht, aber es würde mich überhaupt nicht frustrieren, wenn sich herausstellt, dass sie recht haben. Im Zweifelsfall wäre das echt spannend, weil es dann irgendwie weiter geht nach dem Tod.

Wenn man Ihre Beschreibungen liest, staunt man über alle gleichermaßen.
Man kann natürlich darüber lachen, wenn Leute wie die Raelisten glauben, dass wir von einer Alienrasse geklont wurden, aber wenn du einem komplett Außenstehenden sagst, dass dein Gott von einer Jungfrau geboren wurde und sein eigener Vater ist, klingt das nicht weniger spektakulär.

Sie haben teilweise sehr spitzfindige Diskussionen geführt. Bei Scientology, wo man an Wiedergeburt glaubt, haben Sie gefragt, ob jemand, der im früheren Leben Adolf Hitler gewesen ist, Mitglied werden könnte.
Es ging mir gar nicht darum, spitzfindige Diskussionen zu führen, ich fand die Fragen einfach naheliegend. Wenn man beispielsweise bei den Mormonen sagt, dass Verheiratete und ihre Kinder bis in alle Ewigkeit zusammen sind, dann stellen sich für mich sofort zwei Fragen, zum einen: wenn ich mich scheiden lasse und wieder heirate – was bei den Mormonen möglich ist – mit wem verbringe ich dann die Ewigkeit? Und wenn meine Kinder irgendwann heiraten – wie verbringen die dann ihre Ewigkeit? Die können ja nicht gleichzeitig das Kind in meiner Ewigkeitsfamilie sein und der Mann oder die Frau in dieser anderen Ewigkeitsfamilie? Wenn ich mir ernsthaft überlegen würde, Mormone zu werden, wüsste ich das schon gerne.

Die meisten Gesprächspartner haben sich auf die Diskussionen eher nicht eingelassen. „Meine Fragen sind an seinem Glauben abgeprallt wie Schneebälle an einem Atombunker“, schreiben Sie an einer Stelle.
Ja, das hat mich auch ein bisschen gewundert, weil ich dachte, das muss einen doch auch selber ein bisschen irritieren. Aber im Verlauf der Zeit ist mir klar geworden, dass so ein Glauben immer eingebunden ist in ein soziales Umfeld, das für die Leute oft viel wichtiger ist. Sie können gut verkraften, dass manches nicht nachvollziehbar ist. Zumal du in der Religion diesen rhetorischen Kniff hast, dass du sagst: Ich als kleiner Mensch kann mir doch nicht anmaßen nachzuvollziehen, was Gott sich dabei gedacht hat.

Das heißt, die Theorie ist für die Gläubigen gar nicht so wichtig?
Eher nicht. Offenbar geht es um etwas anderes. Es war sehr interessant zu sehen, wie engagiert alle der Gruppen in der Gesellschaft waren. Die ganze Flüchtlingsthematik wurde im Verlauf meiner Reise immer wichtiger und alle religiösen Gruppen, mit denen ich zu tun hatte, haben selbstverständlich geholfen. Und zwar nicht aus dem Gedanken: „Eine Million Neue, vielleicht können wir da ein paar für uns gewinnen“, sondern weil es eine Frage der Menschlichkeit ist.

Haben Sie etwas gefunden, was, wie Sie es in der Einleitung formulieren, „Heimat für die Seele“ bieten könnte?
Nein, gar nichts. Ich suche ja nicht dringend einen Glauben. Ich habe das auch in schlimmen Phasen meines Lebens nie vermisst. Ich war eher froh, dass ich nicht auch noch die theologische Frage „Wie soll ich das jetzt verstehen, Gott, dass du das hast geschehen lassen?“ beantworten muss. Da kam ich immer besser damit zurecht zu sagen: Du kannst auch einfach Pech haben im Leben. Du kannst der freundlichste, liebenswerteste Mensch der Welt sein und trotzdem früh sterben – aber Leni Riefenstahl, die wird halt 100.

Gideon Böss: „Deutschland, deine Götter“. Tropen, München 2016, 398 Seiten, 19,95 Euro.