Hauptstadt eines neuen Bewusstseins

Die alte Frau ist auf eine Weise alt, wie es man im Westen kaum noch sieht. Die Falten auf ihren gelblichen Wangen, rund um den Mund und auf der breiten Nase sehen aus wie Furchen in einer kargen Gebirgslandschaft. Ihr Blick ist intensiv und wird bei längerer Betrachtung auf fast unheimliche Weise immer intensiver, er scheint einem zu folgen.
Das riesige leuchtende Portrait steht in einem ansonsten dunklen Raum, durch den der Duft von Räucherwerk weht. Es ist Teil der Ausstellung „Atman“ von Bernd Kolb, die noch bis Ende September in der Schöneberger Malzfabrik zu sehen ist.

Die Bilder entstanden auf langen Reisen in Asien, wo Kolb in den letzten Jahren spirituelle Weisheit gesucht und gefunden hat. Alle Fotos sind Dokumente von Momenten intensiver Begegnung und Verbundenheit, die sie jetzt den Besuchern vermitteln sollen. Bei vielen funktioniert das. „Ich habe eine Gänsehaut“, flüstert eine Besucherin, „es ist als könnte sie in mich hineinschauen.“
Bernd Kolb ist kein Eso-Spinner. Er war als Internet-Unternehmer erfolgreich als die meisten in Deutschland noch nicht einmal wussten, was das Internet ist, später wurde er Innovationsvorstand der Deutschen Telekom und gründete den Club of Marrakesh, ein interdisziplinäres Netzwerk, das globale Herausforderungen lösen soll. Das Thema Nachhaltigkeit beispielsweise. Viele Jahre hat Kolb dazu Vorträge gehalten vor Entscheidern aus Wirtschaft und Politik. Er präsentierte Argumente, Zahlen, Daten, Fakten. Und musste feststellen: Wissen verändert gar nichts. Kolb dachte nach: Was bringt Menschen dazu, ihr Verhalten zu ändern? Und stellte fest: „Wissen ist im Grunde eine Begrenzung, was es wirklich braucht, ist Weisheit.“
So machte er sich auf die Suche nach deren Quellen. Weisheit hat mit Erfahrung und Intuition zu tun, erklärt Kolb, mit dem Gefühl tiefer Verbundenheit.
In allen mystischen Traditionen der Welt gibt es die Vorstellung unmittelbarer ganzheitlicher Erkenntnis. Zu erkennen „was die Welt im Innersten zusammenhält“ hat Goethe noch als das Wesen allen wissenschaftlichen Strebens definiert, in den letzten Jahrhunderten hat die Wissenschaft statt dessen die Welt in immer kleinere Teile zerstückelt und diese untersucht, als hätten sie nichts miteinander zu tun.
Auf psychologischer Ebene erzeugt diese Zersplitterung Angst und Einsamkeit.

Mit seiner Suche nach ganzheitlicher Weisheit ist Kolb nicht allein. In den letzten Jahren hat sich Berlin zur Hauptstadt der „concious community“ entwickelt, einer wachsenden Gruppe von Menschen, die sich darüber einig sind, dass wir ein verändertes Bewusstsein brauchen, um mit Krisen fertig zu werden und ein glückliches Leben zu führen. Wobei Glück in diesem Zusammenhang immer auch das Glück der anderen bedeutet. Auf Festivals wie Agape Zoe und Forever Now, Konferenzen wie der Slow Living Conference, in Facebook-Gruppen wie Berlin Loves You werden Ideen zu persönlicher, gesellschaftlicher und wirtschaftlicher Transformation diskutiert und erprobt. Außerdem wird der „Tribe“ gefeiert, der „Stamm“, die Gemeinschaft Gleichgesinnter. Die Fragen, für die neue Lösungen gesucht werden, betreffen die unterschiedlichsten Lebensbereiche. Es geht um „seelenvolle“ Unternehmen, in denen nicht nur Geld verdient, sondern auch Sinn gestiftet wird, um medizinische Behandlungsmethoden, die nicht nur an Symptomen herumdoktern, sondern wirklich heilen können, um Mentaltechniken, die es uns ermöglichen, das volle Potenzial unseres Geistes auszuschöpfen. Interessant ist, dass die „neuen“ Lösungen oft so neu gar nicht sind. Ob Yoga und Meditation, buddhistische Weisheit, schamanische Rituale oder Kräuterheilkunde nach Hildegard von Bingen – bei all dem handelt es sich um jahrhundertealte Weisheit, die, so die Hoffnung, in Kombination mit neuem Wissen Lösungen für aktuelle Probleme bieten kann.
Wer einen Tag auf dem Yoga und alternativer Heilkunst gewidmeten Festival Agape Zoe, das seit letztem Jahr alle zwei Monate auf dem idyllischen Eden-Gelände in Pankow stattfindet, verbringt, wird sich der Anziehungskraft der neuen Bewegung kaum entziehen können. Auch Skeptiker, die angesichts vermeintlich naiver Beschwörungen von Liebe und Gemeinschaft, Herzmeditationen und Fremden-in-die-Augen-schauen die Augen rollen, spüren den utopischen Impetus, dem die Möglichkeit echter Veränderung innewohnt.

Schulen müssen das Zusammenleben lehren
Und es sind hier auch keinesfalls nur weltfremde Hippies unterwegs. Sondern auch Leute wie Margret Rasfeld, Lehrerin seit 39 Jahren, eine Frau, die mit beiden Beinen fest auf dem Boden steht. Und gerade deshalb, weil sie die Realität kennt, fest davon überzeugt ist, dass eine Veränderung des Bewusstseins überfällig ist. Die Direktorin der Evangelischen Schule Berlin Zentrum (ESBZ) und Gründerin der Bildungsinitiative Schulen im Aufbruch ist überzeugt davon, dass unser Bildungssystem in einer tiefen Krise steckt.
„Die Hauptaufgabe von Schulen sehe ich heute darin, dass man das Zusammenleben lernt.“ Die Selektion an deutschen Schulen bewirke allerdings das Gegenteil. „Wie sollen wir das Zusammenleben in der einen Welt – eine der größten Aufgaben, vor denen wir stehen – lernen, wenn wir uns noch nicht einmal trauen, Kinder neun Jahre zusammen in die Schule zu schicken?“
Dass Gemeinschaft nicht mehr gelernt wird, führt auf politischer und gesellschaftlicher Ebene zu fortschreitender Entsolidarisierung, ist die Bildungsaktivistin überzeugt und verweist auf die Langzeitstudie zum Thema gruppenbezogene Menschenfeindlichkeit von Wilhelm Heitmeyer von der Universität Bielefeld. 40 Prozent aller Befragten äußerten die Ansicht, dass wir uns zu viel um Schwache und Versager kümmern und uns das nicht mehr leisten können. Solche Ergebnisse, ist Rasfeld überzeugt, sind auch ein Problem der Schulen. Und zeigt an der ESZB, wie es anders geht.
Wissensvermittlung steht an der ESBZ nicht im Zentrum, Frontalunterricht ist abgeschafft, ebenso 45-Minuten-Einheiten. Schüler bestimmen ihr Lerntempo selbst, und fragen, wenn sie nicht weiter wissen, erst einmal andere Schüler. In Projekten gehen sie eigenen Forscherfragen nach. Die Lehrer fungieren als Berater und Mentoren und haben, da sie nicht als Alleinunterhalter vor der Klasse stehen, mehr Zeit für einzelne Schüler. Auch sie arbeiten selbstorganisiert und – anders als an herkömmlichen Schulen – in Teams.
„Wir wissen, dass Lernen über Beziehung funktioniert“, sagt Rasfeld, „dennoch sind Schulen üblicherweise so organisiert, dass Beziehung gar nicht möglich wird.“
Wo immer sie auftritt – die lebhafte Frau, deren Akzent ihre Herkunft aus dem Ruhrpott verrät, ist eine viel gefragte Rednerin – hat sie Schüler dabei. Die Selbstverständlichkeit und das Selbstbewusstsein mit denen die Schüler auftreten, ist beeindruckend. Dabei haben viele von ihnen klassische Schulversager-Geschichten hinter sich. Selbstvertrauen, ist Rasfeld überzeugt, lernt man, indem man Verantwortung übernimmt, erlebt, dass man etwas bewirken kann und dafür wertgeschätzt wird. „Verantwortung“ steht daher auf dem Stundenplan – zwei Stunden pro Woche arbeiten Schüler in selbst gewählten Projekten, in dem sie einen gesellschaftlichen Beitrag leisten. Auch „Herausforderung“ gehört zum Schulkonzept. Die kann zum Beispiel darin bestehen, sich drei Wochen lang ohne Geld durchzuschlagen oder in einer abgelegenen Scheune täglich acht Stunden ein Musikinstrument zu üben.
Was Schüler in solchen Projekten lernen, ist Mut und Vertrauen. Das Vertrauen, sich in ergebnisoffene Prozesse zu begeben und auch gelegentliches Scheitern anzunehmen. „Dass wir meinen, alles kontrollieren zu können, ist eine Fiktion“, so Rasfeld.
Es scheint paradox, gerade dann zu vertrauen, wenn alles immer unübersichtlicher und beängstigender wird. Aber gerade dann ist es notwendiger denn je. Ganz im Sinne Albert Einsteins, der festgestellt hat, dass es für die Lösung von Problemen ein anderes Bewusstsein braucht als das, das sie verursacht hat. Es ist wie in der Denksportaufgabe, in der man neun Punkte mit vier Strichen verbinden soll, was so lange nicht funktioniert, bis man den vermeintlich gegebenen Rahmen verlässt.
Dass Einzelne alles wissen und daher bestimmen, was zu tun ist, funktioniert angesichts immer komplexerer Probleme nicht mehr.
„Lernen zu sein“ steht auf dem Programm der Schule. „Es geht darum, Räume zu schaffen für Persönlichkeitsentwicklung, in denen Schüler erfahren: Was kann ich? Was will ich? Wofür bin ich eigentlich auf der Welt?“ erklärt die Schulleiterin.
2007 als Experiment mit 16 Schülern gegründet, hat die ESBZ heute lange Wartelisten.
Die Schule hat weder mehr Geld noch mehr Lehrer noch schönere Räume als andere Schulen und um ihr Abitur zu bestehen, müssen die Schüler sich allgemeinen Prüfungsbedingungen stellen – die sie überdurchschnittlich gut meistern.

Den Kapitalismus von innen umbauen
Das was unser Wirtschaftssystem antreibt, scheint eher das Gegenteil von Vertrauen und Gemeinschaft, ein Dogma des Kapitalismus ist die Vorstellung, dass Wirtschaften Konkurrieren bedeutet, dass ich nur gewinnen kann, wenn andere verlieren
Aber ist das wahr? Oder projizieren wir nur veraltete Denkweisen in die Welt?
Samsaras nennt der Buddhismus Muster, die durch oft wiederholte Handlungen entstehen und eine Illusion von Wirklichkeit erzeugen. Dass sich im menschlichen Gehirn durch Erfahrung neuronale Verbindungen verfestigen, die dann genau diese Erfahrung reproduzieren, belegt inzwischen auch die Hirnforschung.

Es gibt Unternehmen, die sich dem Konzept von Egoismus und Konkurrenz widersetzen – und dabei durchaus gut gedeihen. Firmen wie das Biokosmetik- Unternehmen i+m.
i+m-Geschäftsführer Jörg von Kruse steht vor dem ehemaligen Steinmetzhaus auf dem Friedhofsgelände in der Hermannstraße vor einer mit bunten Blumensträußen liebevoll dekorierten langen Tafel. An diesem leicht verregneten Sommerabend gibt es etwas zu feiern: 13.000 Euro hat die Firma mit dem Verkauf einer Duschgel-Sonderedition erwirtschaftet und den gesamten Erlös dem gemeinnützigen Projekt Gärtnerei gespendet. In der Gärtnerei bewirtschaften Geflüchtete gemeinsam mit Ehrenamtlichen Brachflächen auf dem hinteren Teil des Friedhofes, bauen Blumen, Wildkräuter und Gemüse an.
1978 von Inge Stamm als Pioniermarke der Biobewegung gegründet und 2000 von Jörg von Kruse und Bernhard von Glasenapp übernommen, ist i+m ein Wirtschaftsunternehmen, das sich vielen Gesetzen des Kapitalismus wiedersetzt. Gewinne zu maximieren hat hier keine Priorität. 40 Prozent der Erlöse aus dem Verkauf der veganen Produkte, die soweit möglich Fair Trade-Zutaten enthalten, werden für gemeinnützige Projekte gespendet – in Form von Einmalspenden wie im Fall der Gärtnerei aber auch in langfristigen Kooperationen wie dem Betrieb eines Frauenhauses in Sambia.
Weitere 20 Prozent fließen in Mitarbeiterbeteiligungen. Die Mitarbeiter arbeiten eigenverantwortlich und ohne Kontrolle. Es gibt keine festen Arbeitszeiten. Bisher funktioniert das gut. „Vertrauen erzeugt Vertrauen“, ist von Kruse überzeugt.
Einen Businessplan gibt es nicht, Ziele werden nicht definiert und der Begriff Erfolg ist auch nichts, mit dem von Kruse viel anfangen kann. „Das ist eine Kategorie, die stark auf die Zukunft bezieht. Ich bin eher auf die Gegenwart ausgerichtet.“
Was möglicherweise auch damit zu tun hat, dass er praktizierender Buddhist ist. Der Buddhismus lehr, dass wer sich auf die Gegenwart ausrichtet, auch weniger Angst hat.
„Angst ist etwas, das sich auf ein Leiden in der Zukunft bezieht. Ich versuche mich auf die Gegenwart auszurichten, im Jetzt angemessen zu handeln“, sagt von Kruse.
Obwohl sie anderswo mehr verdienen könnten, arbeiten die Mitarbeiter gerne in der rosenbewachsenen Remise im Hinterhof an der Greifswalder Straße. „Ideen einbringen zu können, sich mit dem Unternehmen identifizieren zu können, macht die meisten glücklicher als Geld“, sagt der Chef, der seine Rolle als Moderator und Innovator sieht.
Von Kruse hat dabei kein grundsätzliches Problem mit dem Kapitalismus. „Er ist ein flexibles und leistungsstarkes System, aber man muss ihn von innen umbauen.“ Der Mann mit dem strahlenden Lächeln und den angegrauten Locken ist durchaus gerne Unternehmer, der auch Geld verdienen möchte – um sich selbst und seine Mitarbeiter zu versorgen, gute Produkte herzustellen und und gute Anliegen zu unterstützen, also im Sinne der Gemeinwohlökonomie nützlich für alle Beteiligten zu sein. „Ich kann mir überhaupt nicht mehr vorstellen, dass man nur des Geldes wegen ein Unternehmen führt“, sagt er.
„Beseelte Organisationen“ nennt der Unternehmensberater und Zukunftsforscher Frederic Laloux Unternehmen wie I+M. Sie arbeiten „produktiver und erfüllter“ und können Modelle für sinnorientierteres Wirtschaften sein. Dass die Sehnsucht danach groß ist, zeigte die Begeisterung, die der Autor des Buches „Reinventing Organisations“ mit seinem Vortrag im Rahmen des Forever Now Festivals auslöste. Er wurde empfangen wie ein Heilsbringer.
Und möglicherweise sind all die Meditierenden und Diskutierenden, die alternativen Heiler und Unternehmer, die hoffnungsvoll neue Formen nicht nur Freizeitgestaltung, sondern des Denkens und Handelns erproben, ja tatsächlich das, was Laloux in seinem Buch „Pioniere unserer kollektiven Zukunft“ nennt.