Das Entlastungsprinzip

Eine Frau betritt die Umkleidekabine. Möglicherweise ist sie Unternehmensberaterin und sieht jünger aus als sie ist. Sie wünscht sich Kleidung, die ihre Professionalität und Seriosität ausdrückt, möchte aber authentisch sein und sich wohlfühlen. Da in der Kabine kein Spiegel hängt, beginnt die Anprobe mit einem Körpergefühl. Die Frau spürt, dass ihre Schultern in dem blauen Jerseyshirt ganz leicht, frei und beweglich sind, der feste Hosenbund dagegen Bauch und Hüften angenehm umschließt und ihrer Körpermitte Halt gibt.

Erst als sie all das erfahren hat, tritt die Frau heraus und betrachtet sich im Spiegel. Einkaufen im Atelier von Karin Jordan an der Anklamer Straße läuft deutlich anders ab, als in den meisten Modeläden. Jede Kundin bekommt einen persönlichen Termin und die Designerin nimmt sich viel Zeit – manchmal viele Stunden – um zu erforschen, was die Kundin sich wünscht, was sie braucht und womit sie sich wohlfühlt. Dabei geht es weniger um Look als um Lebensgefühl. „Ich entwickle Mode von innen nach außen. Ich setze mich nicht hin und zeichne etwas, sondern ich beobachte Menschen, ihre Körpersprache, ihre Art sich zu bewegen und frage: Was braucht es gerade?“ erklärt Karin Jordan. „Wohnen in Kleidung“ nennt sie das. Die Designerin, die dunklen Haare zum Zopf gebunden, brauchte heute eine schwarze Hose, schwarze Stiefel und ein langärmeliges Shirt mit angedeutetem Wasserfallausschnitt – ein Jordan-Klassiker. In der Backsteinremise mit den großen Fenstern im Hinterhof der der Unternehmerinnen-Genossenschaft WeiberWirtschaft steht ein großer Tisch mit bequemen Stühlen vor einem Moodboard mit Bildern von Pina Bausch. Daneben steht in großen Lettern: „Andere Menschen denken.“
Was Karin Jordan macht, ist Avantgarde, die auf den ersten Blick nicht als solche erkennbar ist. Auf den Kleiderstangen hängen schlichte Hosen, Shiftkleider und Pullover in Blau, Schwarz, Beerentönen. Viel Jersey, keine Prints, keine Muster, kein Schnickschnack. Entwürfe, denen man zunächst nicht ansieht, was sie können. Zieht man sie aber an und lässt sich von der Designerin führen, ist das eine Art Selbsterkundungsprozess, in dem man erfährt, was Kleidung mit einem macht, wie sie schützen, stärken, verschönern kann. Möglicherweise lernt man sogar Anteile seiner Persönlichkeit kennen, die einem noch gar nicht bewusst waren. „Ich sehe mich als Begleiterin, die Strukturhilfe gibt und auch mal dabei hilft, das Durcheinander im Inneren aufzuräumen“, sagt Jordan. Neue Kundinnen kommen oft mit einem Wunsch, der stark von Trends, Zeitschriften, dem Blick auf andere geprägt ist. Sie denken dann etwa, sie brauchen eine schmale Hose, weil das gerade angesagt ist. Jordan redet niemandem etwas aus. Sie beobachtet Körpersprache und Bewegungsabläufe, stellt beispielsweise fest, dass die Kundin in der schmalen Hose komisch läuft oder verkrampft dasteht und schlägt dann etwas vor. „Oft staunen die Frauen und sagen: Darauf wäre ich nie gekommen. So habe ich mich noch nie wahrgenommen.“
Wer das einmal erlebt hat, kommt meist wieder. Und stellt sich mit Jordans Hilfe eine Art Baukastensystem aus mehreren Teilen zusammen, die auf unterschiedliche Weise kombiniert werden können, so dass man sich über das Aussehen keine Gedanken machen muss. „Wir haben alle so viel Stress und müssen so viele Entscheidungen treffen, es geht mir darum, Entlastung zu schaffen“, sagt Jordan. Eine Frau, die ihre Intuition für die eigenen Kleidungsbedürfnisse gestärkt hat, entscheidet dann morgens immer weniger über den Blick in den Spiegel, was sie anziehen möchte, sondern erfühlt, was es braucht. Habe ich mit etwas Leichtem, Hellen genug Standing für den stressigen Termin? Brauche ich einen Blazer oder schwere Boots, die mir Halt geben? Manche Kundinnen sind nach einem solchen Termin für Jahre versorgt. Geschäftsschädigender Ansatz, könnte man denken. „Ich glaube daran, es müssen nur genügend Frauen mitmachen“, findet die Designerin.
Jordan-Teile sehen erstmal nach wenig aus, können aber viel. „Sie verbinden sich mit ihrer Trägerin wie ein Parfum und holen ihre Power heraus. Sie fängt an zu strahlen.“
Wenn Jordan ihr Vorgehen erklärt, spricht sie nicht von Körperformen, sondern von Körperrhythmen. Manche Erklärung klingt fast ein wenig esoterisch. Es ist wohl kein Zufall, dass viele ihrer Kundinnen sich mit Bewusstseinsentwicklung beschäftigen, als Coaches oder Beraterinnen arbeiten. Nicht jeder versteht das. In der Modeszene schon mal gar nicht. Daher hat Jordan sich schon lange „enttaktet“ wie sie sagt, ist zur Einzelkämpferin geworden, die – fast ein wenig trotzig – seit Jahrzehnten an dem festhält, was sie für richtig hält und damit lebt, dass sie unter dem Radar bleibt. Sie geht nicht auf Messen, beliefert keine Einzelhändler. Selbst ihren Laden in den Hackeschen Höfen, den sie 15 Jahre hatte, gab sie 2010 auf. „Ich habe festgestellt, dass ich so die Haltung, die hinter meiner Mode steht, nicht vermitteln kann.“
Eigentlich mag sie Mode nicht einmal, unterschlägt, wenn sie nach ihrem Beruf gefragt wird, gerne das Wort ‚Mode‘. Glaubt aber, seit ihrer Kindheit in der DDR an die Kraft der Selbstermächtigung, die in der Mode steckt. Bereits als Kind veränderte sie ihre Kleidung nach ihren Bedürfnissen. „Ich habe beispielsweise darunter gelitten, wenn meine Hosen an den Oberschenkeln eng waren“, erzählt sie, „das war, als würde ich in meinem Vorwärtsdrang eingeschränkt, also habe ich sie weiter gemacht“
Es war das Gefühl des Mangels, das Karin Jordan zur Mode brachte. Sie lernte Kostümschneiderin am Stadttheater ihrer Heimatstadt Leipzig, studierte Mode an der Fachhochschule für angewandte Kunst in Schneeberg, arbeitete in der DDR-Modeindustrie und für die Modezeitschrift Sibylle, studierte ein zweites Mal an der Kunsthochschule Weißensee. Zum Examen kam die Wende.
Das Gefühl des Mangels blieb ihr auch im Kapitalismus. Was sie jetzt wahrnahm, war eine Armut an Haltung, Essenz und Tiefe. Hier fand sie ihre Nische in einer Branche, deren Überfluss und ständige Beschleunigung ihr zuwider sind. Bereits 1994 arbeitete sie nachhaltig. Alles wird im Atelier in Berlin gefertigt, die Stoffe – viele GOTS-zertifiziert – kommen aus Europa. Es gibt keine wechselnden Kollektionen, sondern eine fortlaufende, Neues wird behutsam eingefügt. Auch Sales gibt es nicht, „es fängt ja nichts an zu schimmeln.“ Hosen kosten immer um 390 Euro, Blazer um 590 Euro und Oberteile um 180 Euro.
Hinter der Philosophie steht hohe Schneiderkunst, über jede Naht macht Jordan sich Gedanken. Jahrelang hat sie Männermode und Arbeitskleidung analysiert, um deren Funktionalität und Bewegungsfreiheit in die Damenmode zu übersetzen. Allein 25 Varianten ihrer Interpretation der Workerhose sind im Programm, die meisten kommen ohne Seitennaht aus, weil sie sich so besser der individuellen Körperform anpassen. Auch Faltenverläufe sind natürlich kein Zufall, Querfalten, zum Beispiel am Po, dürfen nicht nach unten zeigen. „Ich mag Falten, die lächeln“, sagt Jordan. Sie kreiert Blazer, die im Tragegefühl einer Treckingjacke ähneln, so dass Frauen, die sich in ihrer Freizeit sportlich kleiden im Job nicht verkleidet wirken.
Treue Kundinnen danken ihr das Engagement. Im Corona-Lockdown haben einige sofort für viele Tausend Euro bestellt. „Allein aus Eigeninteresse“, schrieb eine, „wie soll ich weiterleben ohne Sie?“. Corona hat auch die Wertschätzung für Regionalität, Nachhaltigkeit, Individualität und Verlässlichkeit befördert. Seit der Wiedereröffnung im Juni läuft es wirtschaftlich sehr gut für das Label. Jordan bekommt so viel positives Feedback wie selten zuvor. „Ich habe schon vor vielen Jahren das gelebt, was jetzt auf einmal alle wollen – Langsamkeit, Wertigkeit, Minimalismus.“ Vielleicht liegt sie nach einem Vierteljahrhundert mit dem was sie tut, endlich voll im Trend.