Guter Stoff aus Bielefeld

Zurückhaltend fügt sich die Firmenzentrale in die westfälische Landschaft ein. Ein schlichter Klinkerbau aus den 50er Jahren, nur die frei schwebende Dachkonstruktion über dem Eingang verrät architektonische Ambition. Im Inneren aber öffnet sich eine Schatztruhe. Schimmernder Samt in leuchtenden Farben, Jaquards und Taft, exotische Blumenprints und strenge Streifen, schlichtes Leinen und üppig bestickte Shantungseide. Wer den JAB-Showroom durchstreift, reist in Gedanken durch die Welt. Ein kleines Landhaus in der Provence, durchweht von Lavendelduft, ein Penthouse unter dem die Lichter von New York funkeln, ein Riad im Herzen von Marrakesh … Es dürfte wohl kaum einen textilen Traum geben, den JAB Anstoetz nicht erfüllen kann.
„Wir haben in unserer Kollektion von ganz opulent bis ganz modern alles dabei, nur so können wir in den wichtigsten Ländern immer unter den Top Fünf sein. Wer bei uns nicht findet, was er sich vorstellt, der sucht wirklich karierte Maiglöckchen“, sagt Ralph Anstoetz und lächelt das Lächeln eines Mannes, der sich seines gewinnenden Charmes durchaus bewusst ist. Der schmal geschnittene azurblaue Anzug verrät sein Gespür für Stil. Seit über 30 Jahren ist er in dem Unternehmen, das er gemeinsam mit seinen Brüdern Claus und Stephan leitet, für die Kollektionsentwicklung zuständig.

Von seinem Schreibtisch im ersten Stock der Firmenzentrale schaut er auf die Portraits seiner Vorfahren. Großonkel Josef Anstoetz, der das Unternehmen 1946 als Großhandlung gründete. Startkapital: 2000 Meter Stoff, die er von seinem früheren Arbeitgeber geschenkt bekommen hatte. Daneben Vater Heinz, der 1955 übernahm. Von den alt eingesessenen Bielfelder Textilunternehmern als „Plünnenheini“ belächelt, baute er die Firma in den folgenden Jahrzehnten zum Weltunternehmen mit 1.500 Mitarbeitern und Niederlassungen in über 80 Ländern aus.
Heute gehört JAB Anstoetz zu den Weltmarktführern im Bereich Wohntextilien, die JAB Group umfasst eine breit aufgestellte Palette von Unternehmen, die von Teppichen und Bodenbelägen, über Sonnenschutzsysteme bis hin zu Möbeln und Lampen den gesamten Wohnbereich bedienen kann. In den letzten Jahren ist vor allem der Objektbereich stark gewachsen – ausgestattet wird alles vom Hotel, über die Firmenzentrale bis zur Luxusyacht. JAB hat einen Teppich für eine Moschee in Mekka gefertigt und das Hotel Vier Jahreszeiten im Hamburg komplett eingerichtet.
Nach dem Geheimnis des Erfolges gefragt, sagt Ralph Anstoetz: „Wir bieten guten Geschmack zu Preisen, die nicht nur im Luxus-Segment unterwegs sind.“ Wie sein Vater vor ihm, hat er ein Gespür dafür, was geht. „Mein Vater hat immer gesagt: wir müssen pragmatisch kreativ sein.“ Die schönste Idee ist nichts wert, wenn sie sich nicht verkaufen lässt. „Wenn die Leute nachher sagen: ‚Ganz nett, aber am Fenster will ich das nicht haben’, dann bringt es nichts.“ Und wenn Prada eine Sonderanfertigung wünscht, dann fühlt man sich in Bielefeld-Oldentrup nicht einfach nur geschmeichelt, sondern kalkuliert auch mal kurz durch, ob sich das Geschäft rechnet.
In der Designabteilung fällt das Licht durch die großen Fenster auf weiße Schreibtische. An den Wänden hängen Stoffschnipsel, Farbmuster, Moodboards. Im Besprechungsraum steht ein großes Regal mit Bildbänden zu Kunst, Design und Reisen. Zehn Designer arbeiten hier fest, dazu kommen immer wieder freie. „Hier ist die Keimzelle von allem“, sagt Ralph Anstoetz. Jedes Jahr werden hier etwa 180 neue Stoffe entworfen, die von Herstellern in mehreren Ländern gefertigt werden. Aber natürlich werden die Ideen nicht alle hier geboren. „Ich erwarte von meinen Designern, dass sie draußen unterwegs sind. Nicht nur auf Messen, sondern auch mit den Vertretern.“
So wissen sie auch sehr genau, welches Land welche Vorlieben hat. Verschnörkeltes geht beispielsweise in Deutschland nicht. Hier wo JAB sein Hauptgeschäft macht, mag man es reduziert und modern. In Frankreich dagegen gerne verspielt pastellig und in den USA eher altmodisch. Auch der Chef geht viel auf Reisen – über 100 Tage im Jahr ist er unterwegs. Und findet dabei so manche Inspiration. Zum Beispiel auf dem Markt in Marrakesh, wo er sehr spezielle alte Teppiche sah . „Die hatten eine unheimlich schöne Formensprache und besondere Farben. Das war eine Initialzündung.“
Schier endlos scheinen im hauseigenen Lager die Reihen von Regalen mit Stoffballen. Über drei Millionen Meter Stoff liegen hier. Neben dem vielfältigen Angebot ist nämlich die Lieferfähigkeit ein weiteres Erfolgsgeheimnis der Firma. „97 Prozent der Aufträge, die reinkommen, können wir sofort ausliefern.“ Innenausstatter und Einrichtungshäuser wissen das. „Wenn es enge Aufträge sind, greifen die zu Stoffen von uns, weil sie wissen: wenn einer noch liefern kann, dann ist es JAB.“ Und gefertigt wird auf Wunsch in der eigenen Näherei.

Bielefelder Werkstätten
Neben Firmenleitung, Showroom, Designabteilung und Lager sind in der Konzernzentrale auch die Bielefelder Werkstätten angesiedelt, die zu JAB Anstoetz gehörende Möbelmanufaktur, die Heinz Anstoetz 1956 gründete. Als zweites Standbein und Absatzmöglichkeit für die eigenen Möbelstoffe. Steigt man am hinteren Ende des Lagers eine Treppe hoch, landet man in den lichtdurchfluteten Räumen der Manufaktur. Hier sieht man Möbelstücke in verschiedenen Stadien der Fertigung. Nackte Skelette aus massivem Buchenholz werden mit verschiedenen Schichten von Polstermaterial versehen, Füße verschraubt, geleimt, gedübelt und lackiert, zuletzt werden die fertigen Stücke mit Leder oder Stoff bezogen. Dass hier der Rapport stimmt, also beispielsweise ein Blumenmuster ohne Verschiebung von der Sitzfläche in die Lehne übergeht, erfordert hohe Zuschneidekunst.
Verantwortlich für diesen Teil des Unternehmens ist Claus Anstoetz. Das Blau seines Anzugs leuchtet ein bisschen weniger als bei seinem großen Bruder. Aber was die Begeisterung für die hauseigenen Produkte angeht, steht er diesem in nichts nach. „Wir sind im klassischen Sinne noch Manufaktur. Bei uns macht ein Polsterer sein Möbel vom Anfang bis zum Ende. Das ist ein fast künstlerischer Beruf.“ Wenn man die liebevoll ausgeführten Handgriffe sieht, mit denen der Mitarbeiter rotes Leder über die fertige Polsterung eines Sessels zieht, es am Holzrahmen befestigt und dabei immer wieder sanft glatt streicht, glaubt man das sofort. Ein Großteil der hier gefertigten Stücke sind Einzelstücke. Maße, Polsterungsqualität, Details wie ausklappbare Nackenkissen und Bezüge werden nach Kundenwünschen gefertigt. Beispielsweise das klassische Stilsofa mit den geschwungenen Armlehnen, das fertig gepolstert in der Werkstatt steht. Bestellt hat es Ehepaar aus Krefeld, das in wenigen Tagen zum Probesitzen erwartet wird. Nicht nur die Maße eines Möbels wurden den Kundenwünschen angepasst, sondern – je nachdem ob man gerne im Sofa versinken oder lieber gerade sitzen möchte – auch die Qualität der Polsterung.
Viele Kunden kommen her, um zu sehen, wo ihr Möbelstück entsteht. Und sind dann oft verblüfft, dass hier wirklich alles vor Ort handgemacht wird. Natürlich hat das seinen Preis. Ein Sofa kostet schon mal … (Ich frage noch einmal genau nach) „Wir können nie Masse sein“, sagt Claus Anstoetz. „Aber der Markt ist groß genug. ‚Handmade in Germany’ ist in vielen Ländern sehr populär.“ Bei aller Tradition sind die Bielefelder Werkstätten alles andere als angestaubt. Die Ausrichtung ist in den letzten Jahren jünger und moderner geworden. Den Anfang der Neuausrichtung der Bielefelder Werkstätten machte „Inspiration“, ein schlichtes Sofamodell, das es in unzähligen Varianten gibt und das zehn Jahre nach seiner Einführung bereits ein moderner Klassiker ist.
Und die Kollektion der Zweitmarke ipDesign könnte durchaus aus Italien stammen. Immer wieder werden externe Designer für Kooperationen gewonnen. „Fat Tony“ beispielsweise, ein modulares Sitzsystem mit prallen Rundungen, das in poppigen Farben daher kommt haben Graft Architekten aus Berlin entworfen, die bekannt wurden, weil sie gemeinsam mit Hollywoodstar Brad Pitt günstige Häuser für den Wiederaufbau von New Orleans entwarfen.

Foto: Ana Santl