Woodstock revisited

Die letzten Schultage vor dem Abitur sind die Motto-Tage. Die Aufgabe der Schüler besteht hier darin, kulturelle Kompetenz in Form von Garderobenwahl und Styling zu beweisen. Würde mein Sohn an die Prüfungsvorbereitung mit ähnlichem Enthusiasmus herangehen, stünde dem Einser-Abi nichts im Wege. Am dritten Tag lautet das Motto „Woodstock“. In unserem weit zurück reichenden Kleider-Archiv findet sich eine gelbe Cordhose mit Schlag, eine blumenbestickte Weste, ein paar abgetragene Chucks und eine Sonnenbrille mit kleinen runden Gläsern. In Kombination mit einem bunten Tuch um die Stirn, einer indischen Gebetskette und einem Haifischzahn am Lederband um den Hals ergibt das einen ziemlich authentischen Flower-Power-Look. Elektrisiert betrachtet mein Sohn sich im Spiegel. Zwar hatte er am Vortag als „Pimp“ mit offenem Hemd und Pelzmantel auch Spaß, aber das hier ist etwas anderes. Es ist nicht einfach eine Verkleidung. Es ist eine Verwandlung. Sein neues Hippie-Selbst fasziniert ihn so sehr, dass er bereit ist für die Woodstock-Doku, für die ich bisher keines meiner Kinder begeistern konnte. Sie dauert drei Stunden und hat sehr lange Einstellungen, dennoch ist mein Sohn nicht gelangweilt. Es ist, als spürte die Magie, die noch von den auftretenden Musikern ausgeht, noch 45 Jahre später. Alvin Lee, Joe Cocker, Carlos Santana und natürlich Jimmy Hendrix, alle so unglaublich jung und so voller Ironie-freier Hingabe, voller Gewissheit, dass es Musik wie ihre noch nie zuvor gegeben hat. Musik, die den 500.000 jungen Besuchern, die da begeistert und bekifft im Schlamm stehen, Lebenselixier ist und wesentlicher Bestandteil ihrer Identität. Und irgendwie spürt der 18jährige, dass diese jungen Menschen, die seine Großeltern sein könnten, etwas haben, das es heute nicht mehr gibt. Ein Lebensgefühl, das sich daraus speist, dass ihre Zukunft eine Verheißung war. Dass sie beseelt waren von dem Glauben, dass ihre Generation die Welt in einen besseren Ort verwandeln würde.

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