Der Herr der Ringe

Ein Ort wie aus dem Märchenbuch. Umgeben von hügeligen Wäldern reihen sich kleine spitzgiebelige Häuser aneinander. Davor stehen große Holzfiguren. Nussknacker, Engel und Räuchermännchen locken die Besucher in die Werkstätten und Läden. Der Kurort Seiffen, genannt des „Spielzeugdorf“, ist das Epizentrum des Erzgebirgischen Volkskunst.

Eine steile Treppe führt von der Hauptstraße zum Reifendrehwerk Werner. Christian Werner empfängt im kleinen Laden. Hunderte von Holztieren stehen in Regalen, heimische wie Rehe, Kühe, Pferde und Wildschweine und exotische wie Elefanten und Giraffen. Zwischen seinen Kreationen wirkt Werner wie ein freundlicher Riese. Er trägt, was er seit Jahrzenten zum Arbeiten trägt: eine helle Zimmermannshose aus Cord mit passender Weste und weißem Hemd, dazu eine bunte Zipfelmütze. Der 64jährige ist kein Mann für Smalltalk. Ohne lange Einleitung erzählt er vom Vater, der ein angesehener Kunsthandwerker war, ein „Männelmacher“ wie es hier heißt, von den zwei Brüdern, die wie er Facharbeiter für Holzspielzeug gelernt haben. Davon, dass er bereits als Kind entschlossen hat: „Ich werde Reifendreher“.

Man merkt, dass er die Geschichte schön öfter erzählt hat und sich durchaus bewusst ist, dass es eine besondere ist.

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Dann führt der Meister in die Werkstatt. Jede freie Fläche ist bedeckt mit langen Spänen, die aussehen wie Luftschlangen aus Holz. Es reicht harzig und frisch nach Wald. Durch die Fenster fällt die Sonne und taucht die Drehbank in goldenes Licht. Eine etwa 40 Zentimeter dicke Scheibe eines Fichtenstammes ist in die Halterung gespannt. Werner legt mit einer Geste, die etwas Liebevolles hat, seine Hand darauf, die sehnig ist und übersät mit kleinen Narben und erklärt. In der Mitte der Scheibe liegen die Jahresringe weit auseinander, weil der junge Baum schnell gewachsen ist. Außen werden die Ringe eng. Hier ist das Holz feinfaserig und dicht, so wie Werner es braucht. Damit es so wird, muss der Baum unter schwierigen Bedingungen wachsen. Hoch oben, wo er keine Sonne bekommt und ums Überleben kämpft. Solche Bäume findet man im Erzgebirge nicht mehr, durch den Klimawandel wachsen sie hier mittlerweile viel zu schnell. Daher fährt Werner jeden Winter in die Kitzbühler Alpen und klettert die Nordhänge hinauf und sucht Bäume aus, die für ihn geeignet sind. Davon gibt es hier einige. Bei Neumond, wenn die Bäume nicht „vollgefressen sind mit Feuchtigkeit“, werden sie gefällt und bleiben mit der Krone nach unten bis zum Frühjahr liegen, so verbrauchen sie die letzten Nährstoffe. Das minimiert die Gefahr, dass die Stämme im Keller in Seiffen anfangen zu faulen. 25 Festmeter verarbeitet Werner pro Jahr. Werner streicht über das Holz und sagt: „Mit dem Holz ist es wie mit den Menschen. Wenn es denen immer nur gut geht, kommen komische Eigenarten zum Vorschein.“ Das Gedeihen unter widrigen Umständen, für das es eine gewisse trotzige Sturheit braucht, hat Werner mit seinen Bäumen gemein. Seit seiner Jugend engagiert er sich in der evangelischen Gemeinde, später verweigert er den Wehrdienst, woraufhin der Jungfacharbeiter im sozialistischen Betrieb die monotonsten Tätigkeiten zugeteilt bekommt. Endlos muss er Spanschachteln bearbeiten, fühlt sich wie im Gefängnis. Aufwärts geht es, als er eine Stelle im neu eröffneten Freilichtmuseum ergattert, in dem auch ein alter Reifendreher sein Handwerk vorführt. Als der alte Mann sich bereit erklärt, ihn anzulernen, wird der Kindheitstraum endlich wahr. Nach ein paar Jahren als Touristenattraktion, macht sich Werner 1985 mit der eigenen Reifendreherei selbstständig.

Vier Jahre später begrüßt er mit seiner Frau und den zwei Kindern jubelnd die Wende, steht dann aber erneut vor großen Schwierigkeiten. Hat bisher die Genossenschaft seine Produkte zum Festpreis gekauft, muss er sich jetzt selbst um Kunden und Vermarktung kümmern. Er tingelt durch Deutschland, klappert Märkte ab und reist zu Handwerksvorführungen. Und seine Handwerkskunst beeindruckt. Sogar zweimal wird er in der Sendung mit der Maus portraitiert, die Chicago Tribune berichtet, ein Japanisches Museum lädt ihn ein, eine Ausstellung zum Thema Holzhandwerk zu eröffnen. „In Japan wird Handwerkskunst viel mehr geschätzt als hier“, sagt Werner. Dort wurde ihm der Status „lebendes Denkmal“ verliehen, mit dem Menschen geehrt werden, die besondere Fertigkeiten an die nächste Generation weitergeben.

Auf der Werkbank wird das Holzstück jetzt in eine schnelle Drehbewegung versetzt. Mit unterschiedlichen Messern schneidet Werner Rillen in die Oberfläche. „Hier“, sagt er, „kann man jetzt den Hintern sehen. Hier die Beine.“ Der Laie sieht eher eine Art hölzerne Schüssel. „Der Reifendreher“, sagt Werner, „muss die Kunst beherrschen, durch das Negative das Positive zu sehen“.  Schmunzelnd setzt er hinzu: „Was übrigens allgemein im Leben hilfreich ist.“

Schließlich trennt er den fertig geformten äußeren Ring vom Block und nimmt ihn ab. Mit Küchenmesser und Hammer spaltet er den Ring in Segmente und jetzt wird die Form auch für Ungeübte sichtbar – ein Pferd kommt zum Vorschein. Genau genommen 60 Stück – so viele Rohlinge kann man aus einem Ring herausschneiden. Die werden anschließend noch beschnitzt und bemalt. Die Technik, die heute altmodisch wirkt, stellte um 1800 eine sensationelle Rationalisierung der Produktion dar. Auf einmal konnte man schnell viele gleiche Teile fertigen, zum Beispiel Zubehör für die handgeschnitzen Figuren. „Der Himmel über Seiffen war wie das Dach einer großen Manufaktur“, sagt Werner. Andere Fertigungsgebiete wurden abgehängt. „Die Leute im Glottertal reden bis heute nicht mehr mit uns“, sagt Werner und lacht. Fleißig muss man sein und vielleicht „nicht ganz hier“, wie er sagt, während er den Zeigefinger neben der Schläfe kreisen lässt, aber es geht. In die ganze Welt vertreibt er seine Reifentiere und kann mit fünf Angestellten davon leben. „Wir können in dieser hochtechnisierten Zeit immer noch mithalten, das zeigt, was das Reifendrehen für ein geniales Handwerk ist.“

Dafür, dass es weitergehen wird, sorgt Sohn Andreas. Er hat sich entschlossen, das Reifendrehen vom Vater zu lernen und den Betrieb zu übernehmen.

„Das Handwerk ist einzigartig. Klar ist es eine Nische, aber in dieser Nische können wir bestehen“, ist er überzeugt.

Fotos: Maximilian Virgili