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Im Dezember 1871 schickte Franz Kettner aus Mason County,Texas einen Brief an seine Eltern in Oberkirch in Baden: „Die Deutschen“, schrieb er, „behalten ihre Sitten im Auslande bei, und die Amerikaner machen so manches nach, namentlich das Biertrinken.“ Kettners Briefe, 2008 in Buchform erschienen, geben interessanten Einblick in das Leben eines deutschen Auswanderers im 19. Jahrhundert.
Wie recht er mit seiner Beobachtung behalten sollte, davon kann man sich gut 150 Jahre später in New Braunfels überzeugen.
Auf dem parkartigen Gelände am Comal River sitzen Gruppen fröhlicher Menschen an langen Tischen unter blauem Himmel und trinken Craftbiere der lokalen Guadalupe Brewing Company und importiertes bayerisches Hefeweizen. Dazu gibt es Brezn, Bratwurst und Blaskapellen, hier „Oompah-Music“ genannt.
Das alljährliche 14tägige Wurstfest, 1961 als Ausstellung lokaler Fleischproduzenten gegründet, ist eine Attraktion für Locals und Touristen. Gut 250.000 Besucher strömen in die Stadt, der Shuttleservice „Wurstwagen“ sammelt sie in den umliegenden Hotels ein.
Was auf den ersten Blick wie ein weiteres Beispiel der skurrilen weltweiten Oktoberfestisierung aussieht, erweist sich beim genaueren Hinschauen als mehr.
“Well she’s got Music City, I got Gruene Hall …”
(Matt Cave Johnson “I’m Texas, she’s Tennessee”)
New Braunfels ist Teil des „German Belt“, dem etwa 100 Kilometer westlich von Austin gelegenen Hügelland. Viele Orte hier tragen nicht nur deutsche Namen wie Boerne, Schulenburg oder Muenster, sondern sind tatsächlich bis heute von der Kultur und Tradition deutscher Einwanderer geprägt.
Im 19. Jahrhundert zogen etwa 40.000 Deutsche nach Texas. Sie flohen vor Hunger und Armut und den Wirren der 1848-Revolution. Eine zentrale Rolle spielte dabei ein von Mitgliedern des deutschen Hochadels betriebenes Auswanderungsunternehmen, „Adelsverein“ genannt, das 1844 gut 13.000 Quadratkilometer Land zwischen den Flüssen Colorado und Llano kaufte, um dort eine deutsche Kolonie zu gründen.
Auch heute noch erzählt fast jeder, mit dem man ins Gespräch kommt, von Verwandtschaft in Deutschland. Zwar gibt es auf dem Wurstfest an einigen Ständen „Instant German“- Verkleidung made in China zu kaufen, die meisten Dirndl und Lederhosen, die man sieht, sind aber hochwertig und die Patina lässt darauf schließen, dass sie regelmäßig getragen werden.
„Yes, we dirndl up a lot”, bestätigt Mallory Hines, die für die lokale Tourismusorganisation arbeitet. Sie selbst hat ihr Exemplar in Garmisch gekauft, als sie dort ihre Verwandtschaft besucht hat. Auf die Frage, warum die „german heritage“ hier so eine große Rolle spielt, sagt sie: „Wir sind so jung, daher ist es uns wichtig, uns mit etwas zu verbinden, das weiter zurückreicht.“
Sogar eine eigene Sprache haben die Deutschen hier, eine Mischung aus verschiedenen deutschen Dialekten mit amerikanischen Einsprengseln. Sätze wie „Die Kuh ist über die Fence gejumpt“ werden allerdings nur noch von Wenigen formuliert, Texasdeutsch stirbt langsam aus.
Ein besonders pittoresker Teil von New Braunfels ist der Ortsteil Gruene.
In den alten Holzhäusern entlang der Mainstreet reihen sich Kunstgalerien, Trödelläden und Souveniershops, in den Gärten der Cafés und Weinbars wird Live-Musik gespielt. Wer gut essen möchte kehrt ins Gristmill River Restaurant in einer ehemaligen Getreidemühle am Guadeloupe River ein und isst sein Steak umgeben von coyboyhuttragenden Familien unter Holzbalken und ausgestopften Lomghorns.
Ein Muss am Abend ist der Besuch der „Gruene Hall“, Texas ältestem Tanzlokal. Der 550 Quadratmeter große Holzschuppen mit der langen Theke ist seit 1878 ziemlich unverändert geblieben. Die Konzerte auf der kleinen Bühne sind legendär, Stars wie Willie Nelson und Townes van Zandt sind hier aufgetreten, für die ZZ-Top-Doku „That Little ol‘ Band from Texas” wurde hier gedreht.
„At truck stop Buc-ee’s, trying to steal a drink … “
(Garrett Rooster Wooster, “Truck Stop Buc-ee’s”)
Reisende, die vor lauter Deutschtümelei vergessen haben sollten, wo sie sich befinden, werden am Ortausgang von New Braunfels daran erinnert. Hier findet man eine Attraktion der besonderen Art: ein Exemplar der texanischen Tankstellenkette Buc-ee’s. 120 Zapfsäulen, kilometerlange Reihen von Kühltruhen mit Eiswürfeln, ein Shop mit den Ausmaßen einer Großmarkthallte – diese Tankstelle ist riesig. Und da in Texas Größe der ultimative Maßstab für Qualität ist, ist das eine gute Sache, die in Form von Merchandise-Artikeln gefeiert wird. Das Konterfei des Buc-ee-Bibers ziert Schlafanzüge, Christbaumkugeln, Kaffeebecher.
Wer sich die Ausmaße dieses Staates bewusst macht – Texas ist größer als jedes europäische Land – die endlosen schnurgeraden Highways entlangfährt und die Trucks sieht, auf deren Ladeflächen jederzeit eine kleine Rinderherde transportiert werden kann und die hier als Standardfamilienauto angesehen werden, den wundert es nicht, dass ausgerechnet eine Tankstellenkette zu einer Art Nationalheiligtum aufsteigt.
“Miles and Miles of Texas …”
(Jim McGraw And The Western Sundowners, “Miles and Miles of Texas”)
Gut 100 Kilometer von New Braunfels entfernt liegt Fredericksburg, eine weitere von Deutschen gegründete Stadt. Auf dem Weg dorthin, bekommt man ein Gefühl für die Weite und Kargheit der texanischen Landschaft.
Die stachligen Blackbrush- und Mesquite-Sträucher kommen mit wenig Wasser aus, so können sie die trockenen und gnadenlos heißen Sommer überstehen. Auf den Pfahleichen sammeln sich die schwarzen Geier, dort wo ein Waschbär oder ein verirrtes Kalb verendet ist. Gelegentlich deutet ein auf einen Pfosten montierter Briefkasten am Straßenrand darauf hin, dass irgendwo am Ende eines Schotterweges ein Haus steht, das von der Straße aus allerdings nicht zu sehen ist. 165 Hektar groß ist die durchschnittliche texanische Ranch, die größte ist so groß wie das Saarland.
Für Countrymusik-Fans ist ein Abstecher nach Luckenbach Pflicht, dem Ort, der heute aus einem verwitterten Postamt und einer Freilichtbühne besteht und der in den 1970er-Jahren von Musikern wie Jerry Jeff Walker, Willy Nelson und Waylon Jennings, die sich selbst als „Outlaws“ bezeichneten, als Gegenentwurf zum Nashville-Mainstream gefeiert wurde – legendär besungen in Jennings und Nelsons Klassiker „Luckenbach Texas.“
“By the same stars above you, I swear that I love you, you are my pretty Fraulein …” (Bobby Helms, “Fraulein”)
Relativ bald nach Ankunft der ersten Einwanderer, stellte sich heraus, dass die Herren des Adelsvereins, insbesondere ihr Chef, Prinz Carl zu Solms-Braunfels das Projekt nicht im Griff hatten. Ein Jahr nach dem Kauf des Landes war Texas den Vereinigten Staaten beigetreten, eine deutsche Kolonie war nicht mehr denkbar. Nachdem Solms sich jede Menge Feinde und überall Schulden gemacht hatte, gab er auf und kehrte nach Deutschland zurück.
„Er war kein guter Anführer“, erklärt Evelyn Weinheimer.
Die pensionierte Lehrerin ist Leiterin des Pionier-Museums in Fredericksburg und direkte Nachfahrin der Einwanderer, die 1845 von falschen Versprechungen gelockt nach wochenlanger Überfahrt in Galveston an Land gingen und dann dort, auf sich selbst gestellt, um ihr Leben kämpften.
Erst als der Adelsverein Otfried Freiherr von Meusebach, der sich in Texas John Meusebach nannte, schickte, besserte sich die Lage.
Nach langen Verhandlungen und weiteren Landkäufen, ebnete er den Weg für die Gründung von Fredericksburg, wo sich die Siedler schließlich niederließen.
Meusebach war es auch, der etwas fertigbrachte, was in der amerikanischen Geschichte einmalig ist: Er schloss im März 1847 mit den Comanchen-Führern Santana, Old Owl und Buffalo Hump einen Friedensvertrag – und hielt ihn ein. Es ist der einzige mit amerikanischen Ureinwohnern geschlossene Vertrag, der nie gebrochen wurde. Sein Jahrestag wird deshalb noch heute von den Nachkommen beider Parteien gemeinsam in Fredericksburg im Rahmen eines Volksfestes, dem „Founders‘ Day“, gefeiert.
Als sie jung war, erzählt Weinheimer, konnte sie nicht schnell genug wegziehen aus ihrem Heimatort, den sie als eng und rückwärtsgewandt erlebte. „Wenn man sich verliebte, musste man sehr genau recherchieren, dass man nicht allzu nah verwandt war“, sagt sie und lacht. Heute ist das anders. Fredericksburg hat großen Zulauf, aus den Großstädten ziehen immer mehr Leute hierher. Die Stadt ist gut erhalten, besonders sehenswert sind die Sunday Houses, kleine Häuser, die deutsche Farmer aus der Umgebung für ihren Wochenendaufenthalt in der Stadt errichtet hatten. Die Weinindustrie boomt, der Tourismus ebenso. Es gibt mehrere Nationalparks, Naturwanderwege, Weintouren und Museen. Auch gastronomisch hat die Stadt inzwischen mehr zu bieten als die Traditionslokale „Ausländer Biergarten“, „Lindenbaum“ und „Opa’s Smoked Meat“.
Fine Dining gibt’s im Hill and Vine und mit dem „Peach Haus“ haben Mark Wieser und Case Fischer aus einem Schuppen am Straßenrand, in dem Wieser in den 1960er-Jahren selbst gemachte Pfirsichmarmelade verkaufte, ein Gastroimperium aufgebaut, das Feinkost und eigene Weine anbietet. Wieser, dessen Vater in den 1920er-Jahren aus Deutschland eingewandert ist, ist tatsächlich einer der Wenigen, die noch Texasdeutsch sprechen. Nachdem er die Geschichte des Unternehmens erzählt und dabei „Fischer & Wieser“-Weine serviert hat, verabschiedet er die Gäste mit einem freundlichen „Kumma wieda.“