Forschen am Bedarf

In den Cafés trinken Menschen den morgentlichen Cappuccino, im Yogastudio werden Sonnengrüße geübt, aus der Glaserei vorsichtig eine Scheibe getragen. In der Oderberger Straße in Berlin Prenzlauer Berg liegen Wohnen, Arbeiten und Freizeit nah beieinander.

Das schmale Haus direkt neben dem zum Hotel umgebauten Stadtbad sieht mit seiner graubraunen Fassade auf den ersten Blick recht unscheinbar aus. Auf den zweiten Blick machen der winzige Ausstellungsraum mit dem Schaufenster zur Straße und die großen Atelierfenster im ersten Stock aber neugierig. Vom Treppenhaus mit dem knallgelben Geländer erhascht man einen Blick in eine der Wohnungen: Wände aus Sichtbeton, einer hoher Raum mit Galerie, eine Wand voller Bücher.

Fast alle Wohnungen im Haus sind zweistöckig, bestehen aus einem größeren und einem kleineren Teil, die beide vom Treppenhaus aus zugängig sind. Das erzeugt nicht nur ein tolles Wohngefühl, es ermöglicht auch, dass der kleinere Teil einfach abgetrennt und zu einer eigenen Wohnung umfunktioniert werden kann, zum Beispiel wenn erwachsene Kinder ausziehen. Im ersten Stock bieten Gewerbeflächen Raum zum Arbeiten, im Erdgeschoss öffnen Laden- und Restaurantflächen das Haus zur Straße. Im Grunde ist die Oderberger Straße 56 eine Art Fallstudie, die erforscht, wie ein Gebäude komplexen urbanen Bedürfnissen gerecht werden kann.

Im ersten Stock liegt das Büro von BAR-Architekten, die das Haus 2003 gebaut haben. Michael von Matuschka hat die „Base for Architecture and Research“ 1992 zusammen mit den Studienfreunden Antje Buchholz, Jack Burnett-Stuart und Jürgen Patzak-Poor gegründet.

Dies ist definitiv kein Angeberbüro. Der Raum ist nur knapp 40 Quadratmeter groß, schlichte weiße Holzplatten dienen als Schreibtische. Auf einem Regal vor dem großen Fenster zur Straße stehen Gebäudemodelle aus Holz wie eine Miniaturstadt.

Das Durchgangsbad
Auf den schwarzen Rollkragenpullover und die schwarze Hornbrille, die manche seiner Berufskollegen wie ein Abziehbild ihrer Selbst wirken lassen, verzichtet Michael Matuschka. Seine Brille ist hell, er trägt einen roten Hoodie zur dunkelblauen Arbeiterhose.

Um die Arbeitsweise des BAR-Teams zu erklären, greift er eine Art Sperrholzköfferchen aus dem Regal. Klappt man es auf, schaut man von oben in die Miniaturausgabe einer Wohnung. „Wir sind damals kurz nach der Wende alle in diese unsanierten Wohnungen gezogen. Die meisten hatten kein Bad. Als die Wohnungsbaugesellschaften dann anfingen, Bäder einzubauen, fanden wir, dass sie damit die Grundrisse der Wohnungen eigentlich verschlechtern“, erklärt Matuschka. Daher haben sie die Idee des Durchgangsbads entwickelt. Im Modell zeigt Matuschka, wie sich im geräumigen Flur Toilette und Waschbecken auf der einen Seite und Badewanne auf der anderen mit Schiebetüren abtrennen lassen. Es entsteht ein Raum, der je nach Bedarf unterschiedlich genutzt werden kann.

Dieses erste Projekt macht das BAR-Programm bereits deutlich: Es geht um die Erforschung der komplexen Bedürfnisse von Menschen im urbanen Raum und die Entwicklung von Lösungen, die diesen gerecht werden.

Matuschka spricht ruhig und konzentriert, ein Mann, der es ernst meint. Nur gelegentlich huscht ein kleines Grinsen über sein Gesicht unter dem dichten grauen Haarschopf und lässt ihn jungenhaft wirken. Große Gesten macht er nicht, die Hände sind beschäftigt, auf Details im Modell hinzuweisen. Modelle sind ein wesentlicher Bestandteil der Arbeit des Architektenteams seit dem Studium bei William Firebrace an der Berliner HDK (heute UDK) in Berlin. Firebrace lehrte die Studierenden, räumliche Konzepte aus der Beobachtung existierender Zusammenhänge zu entwickeln. Das Bauen von Prototypen spielte dabei eine große Rolle. „Modelle dienen vor allem der Kommunikation, der gemeinsamen Entwicklung von Lösungen, dem Begreifen im wahrsten Sinne des Wortes“, sagt Matuschka.
Das Bauen von Dingen lag dem 59jährigen aber ohnehin seit er in seinem letzten Schuljahr in der Holzwerkstatt der Schule eine Reihe von Jojos gebaut hat. „Das waren meine ersten Designversuche.“  Für den jungen Mann war klar: In dieser Richtung soll weitergehen.
Er machte eine Tischlerlehre in der Nähe vom Bamberg studierte anschließend Industriedesign in Essen und Wien. Dort lernte er viele Architektenstudiere kennen. „Ich habe mir überlegt, dass ich als Architekt auch Möbelbauer sein kann, aber nicht umgekehrt.“ Nachdem er seinen Vater davon überzeugt hatte, ihm ein weiteres Studium zu finanzieren, ging er nach Berlin.
Auch heut noch legt Matuschka gern selbst Hand an, etwa beim aktuellen BAR-Projekt, dem Umbau einer Reihe Garagen in Berlin-Wedding in einen Wohn-Gewerbe-Komplex. Er trägt die Arbeitshose nicht zum Spaß.

Die uneitlen Designer-Möbel
Selbst für geübte Ohren ist in Matuschkas Sprache keine regionale Klangfärbung zu erkennen, die darauf hindeuten würde, wo er aufgewachsen ist. „Kein Dialekt, keine Heimat“, sagt man im Hessischen. In gewisser Weise trifft das auf Matuschka zu. Sein Vater war im diplomatischen Dienst, die Familie zog oft um. Geboren wurde er in Salzburg, verbrachte ein paar Jahre in Pakistan, Tokio und schließlich in New York.

Was bei all den Ortswechseln aber gleichblieb, waren die Möbel. „In gewisser Weise waren die Möbel unser zu Hause“, sagt Matuschka. Was er besonders mag, sind die japanischen Tansu-Kommoden. „Die sind nicht nur sehr schön, sondern auch sehr flexibel. Sie funktionieren bei Bedarf wie Umzugskisten, da man die Beschläge umklappen und eine Stange zum Tragen durchschieben kann.“

Foto: Lena Giovanazzi
Foto: Lena Giovanazzi

Flexibilität und Anpassungsfähigkeit charakterisieren auch Matuschkas eigene Möbelentwürfe. Für „BTB“ ließ er sich von der klassischen Bierbankgarnitur inspirieren. Das Möbel besteht aus einer Holzplatte und einem Stahlgestell mit unterschiedlich langen Schenkeln. Je nachdem, wie man es befestigt, entsteht ein Tisch oder eine Bank. Nach dem gleichen Prinzip funktioniert „LTL“: ein Tisch, der sich „tiefer gelegt“ mit einer Auflage in ein Gästebett verwandeln lässt.  Die geschichteten Holzplatten lassen in ihrer Verarbeitung an Bauholz denken. „Ich habe bei der Entwicklung eher im Arbeitskontext gedacht“, erläutert Matuschka den Entwurf. Aber für unerwarteten Besuch oder schnell entschlossene Gartenparty sind sie natürlich auch geeignet. Diese Möbel wollen nicht im Mittelpunkt stehen, haben nichts dagegen im Keller gestapelt zu werden. Bewunderung erregen sie aber durchaus – einfach, weil sie so perfekt durchdacht sind.

Zum Abschluss des Besuchs führt Matuschka in die Werkstatt ins Souterrain. „Die Werkstatt gehört einfach dazu“, sagt er. Hier steht die alte Kreissäge, die das BAR-Team von Anbeginn begleitet hat. Hier steht auch der Schrank aus Holzgestell und dünnen MDF-Platten, der eigentlich ins Magazin-Programm aufgenommen werden sollte. Dazu kam es allerdings nicht. „Irgendwo auf dem Weg haben sich unsere Vorstellungen auseinanderentwickelt“, sagt Matuschka. Er wirkt nicht besonders frustriert darüber. In einer Welt gelebter Komplexität ist Scheitern kein Versagen, sondern ein Entwicklungsschritt.