Am anderen Ufer

Wer am westlichsten Punkt des NDSM-Werftgeländes steht und auf das Ej hinausschaut, das aussieht wie ein Fluss, aber eigentlich ein Meeresarm ist, hat die Vergangenheit, die Gegenwart und die Zukunft des Amsterdamer Nordens auf einmal im Blick. Im Hintergrund schwankt ein riesiges Frachtschiff auf den Wellen, eines der wenigen, an dem hier noch gearbeitet wird. Der Schiffsbau hat schon lange an Bedeutung verloren. Direkt am Ufer sieht man das Bürogebäude Kranspoor, einen 268 Meter langen Glaskasten, der auf eine alte Kranbahn gebaut wurde, die einst der Reparatur von Tankern diente. Mit dem Entwurf schuf die Architektin Trude Hooykaas, die hier auch selbst ihr Büro hat, ein eindrucksvolles Beispiel für die Umnutzung von Industriearchitektur. Und wer den Blick schweifen lässt, sieht die Rohbauten teurer Wohnkomplexe in den Himmel wachsen.

Umzunutzen gibt es in Amsterdam Noord jede Menge, seit die Industrie abgewandert ist. Prominentestes Beispiel ist die „Nederlandsche Scheepsbouw Maatschappij“, kurz NDSM, in den 1930er-Jahren die größte Werft Europas, 1984 in Konkurs gegangen. Jahrelang lag das gut 70.000 Quadratmeter große Gelände mit den bröckelnden Lagerhäusern und Kais brach. Hausbesetzer und Partyveranstalter bildeten die Vorhut für eine gelungene Neubelebung. Künstler zogen ein, es folgten Restaurants und Cafés und schließlich Firmen wie Greenpeace, Red Bull und Hema, die ihre Sitze hierher verlegten. Es gibt ein Street Art Museum mit dem riesigen Anne Frank Mural des brasilianischen Künstler Eduardo Kobra als Aushängeschild, am Wochenende Flohmarkt, Konzerte und Festivals. Das Pllek, Restaurant und Bar mit eigenem Strand und Blick übers Wasser auf die Altstadt ist sicherlich einer der stimmungsvollsten Orte Amsterdams, um einen lauen Sommerabend zu genießen. Sollte er nicht ganz so lau sein, wärmt man sich am Lagerfeuer.

Jenseits der Grachten
Das NDSM-Gelände ist in einer 15minütigen Fahrt mit der Fähre zu erreichen, die direkt hinter dem Hauptbahnhof ablegt. Dass die Fähre über das Ej bis in alle Ewigkeit für Menschen und Pferde kostenlos sein solle, versprach einst der König seinem Volk. Pferde sieht man heute eher nicht, dafür jede Menge „Fietsen“, Fahrräder, von denen es in Amsterdam mehr gibt als Einwohner. Vom Boot aus hat man einen tollen Blick auf Schiffe und spektakuläre Neubauten wie das 90 Meter hohe Pontsteiger Building, das wie ein großes Tor aus dem Houthaven ragt. Die Wohnung im obersten Stockwerk wurde für über 16 Millionen Euro verkauft und soll damit die teuerste in den ganzen Niederlanden sein. Ähnlich hoch oben – und mit 895 Euro pro Nacht auch nicht gerade günstig – schläft man in den drei Suiten des stillgelegten Krans, den man von der Fähre auch gut sehen kann. Ebenso das Pfannkuchenboot, auf dem sich jeder eine Süßigkeit mit Wasserblick leisten kann.

Wer den Bahnhof, wie die meisten Touristen, nach Süden verlässt und eingehüllt in schwere Cannabisschwaden durch die engen Gassen und entlang der herrschaftlichen Grachten schlendert, dem wird gar nicht bewusst, dass Amsterdam eine Stadt des Meeres ist, der großen Schiffe, der Wellen und der Gezeiten. Und auch wenn der Schiffbau an Bedeutung verloren hat und Rotterdam der Hauptstadt den Rang abgelaufen hat, ist Amsterdams Hafen immerhin noch der viertgrößte Europas. So erstaunt es denn auch nicht, dass hier Wasser als Souvenir verpackt wird und nicht Luft wie in Berlin.

Noch kürzer als die Fahrt zum NDSM-Gelände dauert es zur Anlegestelle Buiksloterweg, wo zwei weitere Attraktionen des neuen Nordens warten: Das Filmmuseum Eye, ein Bau der Österreicher Delugan und Meissl, dessen Form die einen an eine hockende Kröte erinnert, die anderen an eine Luxusjacht. Auch wenn man die Ausstellung nicht sehen will, lohnt ein Blick ins Foyer mit den schwebenden Lampenskulpturen von Olafur Eliasson, die ihr Licht ständig verändern und ein Kaffee auf der Terrasse. Und A’dam, der 100 Meter hohe Turm, in dem bis 2009 Verwaltung und Labors der Firma Schell untergebracht waren und heute Musikstudios, Clubs, Restaurants, Skybar und Aussichtsplattform. Auf der 20sekündigen Aufzugfahrt stimmt eine Lightshow auf den sensationellen Blick ein, der einen oben erwartet. Hier könnte man sich sogar einen Kindheitstraum erfüllen und auf einer riesigen Schaukel hoch oben über der Stadt schwingen. Der Wind weht allerdings so heftig, dass einem schlagartig klar wird, warum die Holländer die Windmühlen erfunden haben und man es sich doch lieber mit einem Drink in einem Sessel der verglasten Bar gemütlich macht.

Dörfer auf dem Deich
Will man mehr sehen als die Aushängeschilder und den Norden der holländischen Hauptstadt wirklich kennenlernen, sollte man sich ein Fahrrad mieten und am besten einen versierten Guide dazu. Mark Thuring von Amsterdam Experiences erweist sich als Glücksfall. Nicht nur ist der gebürtige Amsterdamer seit 25 Jahren als Stadtführer unterwegs und weiß so ziemlich alles über die Stadt, was man nur wissen kann, er ist auch noch in Noord aufgewachsen.

„Damals behielt man das lieber für sich“, sagt er. „Die Gegend war als schäbig und kriminell verrufen.“

Der Mann mit dem wettergegerbten Gesicht und den leuchtend blauen Augen ist ein guter Geschichtenerzähler und radelt, obwohl bereits über 70, kraftvoll voraus – auch gegen den Wind.

Er erzählt von den der kleinen Halbinsel Volewijk, auf der Fischer und Händler lebten, lange bevor Amsterdam gegründet wurde, von den Dörfern auf dem Deich, Durgerdam, Nieuwendam und Buiksloot, die damals, bevor mehr Land dem Wasser abgerungen wurde, von offenem Gewässer umgeben waren. Zu Wohlstand kamen die Dorfbewohner, als 1824 der Nordhollandkanal eröffnet wurde, an dem man heute schön entlangradeln kann. Der Kanal schuf eine direkte Verbindung zum Meer, was nötig wurde, da die Wasserstraße durch die Zuiderzee immer mehr versandete. Die Schiffe mussten durch den Kanal gezogen, die Besatzungen versorgt werden, was den Anwohnern gutes Einkommen bescherte.

Sein heutiges Gesicht bekam der Amsterdamer Norden in den 1920er-Jahren als die „Tuindorpen“, die Gartensiedlungen für Arbeiter, gebaut wurden, ein groß angelegtes Sozialprojekt. Die Arbeiter wurden aus dem damaligen Elendsviertel Jordaan sogar zwangsumgesiedelt. Inzwischen kommen die Menschen freiwillig. Die Backsteinreihenhäuschen mit kleinen Gärten rund um zentrale Plätze gruppiert, sind heute ausgesprochen beleibt, die Wartelisten sind lang. Bloemenbuurt – wo die Straßen alle Blumennamen tragen- und Vogelbuurt – hier sind es Vögel – sind nur wenige Fahrradminuten von der Fähre entfernt. Man wohnt ruhig und grün und dennoch sehr zentral.

Weiter nach Norden radelt man an einer lebendigen Mischung von Karosseriewerkstätten, Start ups und Kunstprojekten vorbei und kann bei „De Verbroederij“ eine Pause einlegen, einem Nachbarschaftsprojekt mit Gemeinschaftsgemüsegärten, Café und Strand. Am Noorderpark vorbei landet man auf dem Nieuwendammerdijk in einem der alten Deichdörfer. Kleine Backsteinhäuschen mit Erkern, lackierte Holzfassaden, Kapitänshäuser mit repräsentativen Säulen. Man wähnt sich in einem idyllischen Dorf auf dem Land – und ist doch nur wenige Kilometer von Amsterdams Zentrum entfernt. Wer hier rasten möchte, kehrt am besten im „Cafe ‘t Sluisje“ ein, das die Nachbarn gemeinsam betreiben. Einen Besuch wert ist auch das Kreativprojekt De Ceuvel, auch eine Umnutzung, ausgezeichnet mit einem Designpreis für die nachhaltige Aufbereitung des verschmutzten Geländes durch Pflanzen. Das Sammelsurium von aus Altholz gezimmerten Häuschen, Booten und Strand dürfen Berliner an die Bar 25 erinnern.

Schlafen in der Kirche
Auch Übernachtungsmöglichkeiten für Reisende gibt es inzwischen hier außerhalb des touristischen Zentrums. Eine besonders originelle ist das Bunk in der umgebauten St. Rita Kerk.

In der Eingangshalle, unter den steinernen Spitzbögen, empfängt einen ein riesiger lilafarbener Dino, weiter hinten wartet ein ausgestopfter Hase mit Gewehr und ein lebensgroßes Kunststoffpferd. Der Neonschriftzug an der Rezeption wechselt flackernd von „self check in“ zu „f ck“, von der Decke baumeln üppige Blumengebinde. Es gibt viel zu entdecken im Bunk, das eine gelungene Mischung aus Designhotel und Hostel ist. In weißen Kuben, die in das große Kirchenschiff geschachtelt sind, gibt es unterschiedlich große Zimmer und außerdem eine Reihe von „Pods“, mit Vorhängen voneinander getrennte Schlafplätze nach japanischem Vorbild. Hier gibt es die Übernachtung schon ab 26 Euro. Die großen Gemeinschaftsräume, Restaurant und Bibliothek sind für alle da, ebenso die Kunst, zum Beispiel die Tromp d’oeil-Malerei des Street Art Künstlers Jan is de Man, die man überall im Haus findet. So kommen hier Menschen zusammen – auch Einheimische kehren gerne ein – ganz wie früher in der Kirche.

Man kann also ein paar Tage ganz dem Norden widmen. Muss man aber nicht – ist das Stadtzentrum doch nur eine kurze Fährfahrt entfernt.