Das Glück in den Wäldern

Durch das dichte Laub schimmert ein Fabelwesen. Es hat silberglitzernde Augen und ein buschiges pink-rotes Fell. Kommt man näher, entpuppt es sich als Textilkunstwerk, aufgespannt zwischen zwei Baumstämmen. Es ist nicht das einzig Wundersame, das es in dem verwilderten Garten an der Straße zwischen Groß Köris und Löpten zu bestaunen gibt. Auf einer bizarren Wurzel thront ein Tierschädel mit lückenhaftem Gebiss, auf dem frisch gesäten Stück Rasen sitzt ein bunt bemalter Frosch neben einem kleinen Altar, in den Zweigen baumeln Quasten, Laternen und große Metallrohre, auf denen man mit einem Klöppel Musik machen kann.
Im Januar haben die Designer Lena Voutta und Thoas Lindner den Garten übernommen und dank Corona hatten sie viel Zeit, ihn zu gestalten. Viele Wochen haben sie, zusammen mit Thoas siebenjährigen Sohn Ange komplett hier gewohnt. In einem alten Wohnwagen, da das Häuschen, das zum Garten gehört, noch unbewohnbar war. Inzwischen hat es einen neuen Fußboden, neue Fenster und einen angebauten Schuppen. Als nächstes ist das Dach dran.
„Hier raus zu ziehen war abenteuerlich, nicht nur für Ange“, sagt Thoas. Es gab kein Wasser und den Strom zapften sie sich vom Nachbarn. Inzwischen gibt es einen offiziellen Stromanschluss – Geschenk von den Eltern – und eine Wasserfilteranlage, die das sumpfige Grundwasser trinkbar macht. Von Lenas Eltern stammten auch einige der Setzlinge, die den Grundstock des Gemüsegartens bildeten. Jetzt wachsen hier Tomaten, Kartoffeln, Kürbisse und Salat. „Heute haben wir die ersten Gurken geerntet“, sagt Thoas, „richtig ernst zu nehmende Gurken.“
Je länger der Ausnahmezustand dauert, desto mehr genießen die drei es hier draußen. „Hier haben wir den totalen Abstand, hier ist Corona ganz weit weg.“ Sie haben gar keine Lust mehr auf Berlin. Thoas fährt nur noch einmal die Woche in die Stadt, um die Bestellungen abzuarbeiten, die bei seinem Label „The Tribe“ eingehen. Seine Kunden, so sagt er, haben kein Problem damit ein paar Tage auf ihre Bestellung zu warten.
Auch der Kater liebt das Landleben.
„Das, was in den letzten Wochen passiert ist, ist wie eine Art Aufwachen“, sagt Thoas, der mit seinem Label Butterflysoulfire einst eines der Aushängeschilder der boomenden Berliner Modeszene war. Das Label gibt es schon länger nicht mehr, auch den Laden in der Mulackstraße hat er geschlossen. Den Plan einen neuen Laden aufzumachen, hat er verworfen. „Weniger Shoppen gehört zu diesem Aufwachen. Ich finde das gut – obwohl es mich natürlich auch trifft.“ Bei Thoas neuem Label „The Tribe“ geht es denn auch weniger um schnell wechselnde Trends als um die Versorgung des „Stammes“ von Menschen, denen Bewusstsein, Achtsamkeit und Gemeinschaft wichtiger sind als Status, Geld und Konsum mit Hoodies und Shirts auf denen Botschaften stehen wie „Liebe sich wer kann“, „We are one“ oder „Make Love great again.” Das neueste Produkt im Onlinestore heißt „Waldgold“ – Räucherharz, direkt von den umliegenden Kiefern gepflückt.
Lena, Thoas und Ange sind glücklich hier draußen. Es zieht sie nicht in die Stadt zurück. „Es fällt mir immer schwerer in die Stadt zu gehen“, sagt Thoas. Und Lena muss sich auch erst wieder daran gewöhnen, ins Büro zu gehen. Sie ist Designerin bei dem Label Lala Berlin und findet, dass sie hier draußen sehr gut kreativ sein kann. „Wir haben anders gearbeitet während des Shutdowns“, erzählt sie. Leichter, spielerischer. Wer konnte, zog sich, wie sie, aufs Land zurück. Bei Videokonferenzen liefen Kinder und Tiere durchs Bild und man hörte Vögel zwitschern. „Dadurch ändert sich die Einstellung zur Arbeit“, sagt Thoas. „Trotzdem war Lena keinesfalls weniger produktiv.“
Mit der Neuausrichtung ihres Lebens sind beiden nicht allein. Während die 24 Parzellen am Waldrand letzten Sommer noch zur Hälfte leer standen, sind sie jetzt alle vergeben – an Künstler, Designer und Fotografen aus Berlin. Genau die Menschen, die vor Jahren aus der Enge der Kleinstädte nach Berlin flohen, um frei und kreativ leben zu können, verlassen die Stadt jetzt in Scharen, um – zumindest teilweise – auf dem Land zu leben. „Der Run auf Wochenendgrundstücke ist riesig“, erzählt Thoas, „alle unsere Freunde, die uns besuchen, fragen, ob es hier noch etwas gibt“. Und die Wartelisten der Kleingartenvereine in Berlin und Umgebung explodieren.
Die Sehnsucht nach dem einfachen Leben auf dem Land ist nicht neu. „Ich zog in den Wald, weil ich den Wunsch hatte, mit Überlegung zu leben, dem eigentlichen, wirklichen Leben näher zu treten, zu sehen, ob ich nicht lernen konnte, was es zu lehren hätte“, schrieb der amerikanische Schriftsteller Henry David Thoreau 1854 in seinem Buch „Walden – Life in the Woods“. Die Dokumentation seines Selbstversuchs als Waldbewohner wurde zu einem der einflussreichsten Werke der amerikanischen Literatur, zur Bibel aller zivilisationsmüden Aussteiger.
„Das Leben hat hier draußen hat eine andere Qualität. In der Stadt neige ich dazu, nachts auf einer Netflix-Serie hängen zu bleiben und dann lange zu schlafen. Hier haben wir gar kein Internet. Ich stehe früh auf und sehe zu, wie die Sonne zwischen den Bäumen aufgeht“, schwärmt Thoas. Und statt sofort an den Schreibtisch geht Lena erstmal eine Runde im See schwimmen.
Selbst Kater Whitey, der in der Stadtwohnung nur faul herumlag, erwacht hier zu neuem Leben. „Dem taugt das total“, sagt Thoas. „Er ist richtig aufgeblüht und total agil geworden.“ Er hat sogar zum ersten Mal in seinem Leben eine Maus gefangen. Das ging allerdings nach hinten los: „Nachdem er sie gefressen hatte, musste ich mit ihm zum Tierarzt, weil er sie nicht vertragen hat.“
Die Stadt ganz aufzugeben haben die beiden allerdings nicht vor. Schule und Job machen es nötig – und manchmal ist es dort ja auch ganz schön. Hin- und her zu pendeln und so das beste aus allen Welten zu verbinden scheint die ideale Lösung zu sein.
Die Epidemie hat gezeigt, dass Arbeiten auch anders möglich ist als mit täglicher Präsenz im Büro, jetzt sind die Arbeitgeber gefragt.
„Das eine wenigstens lernte ich bei meinem Experimente: Wenn jemand vertrauensvoll in der Richtung seiner Träume vorwärts schreitet und danach strebt, das Leben, das er sich einbildete, zu leben, so wird er Erfolge haben, von denen er sich in gewöhnlichen Stunden nichts träumen ließ. Er wird mancherlei hinter sich lassen, wird eine unsichtbare Grenze überschreiten. Neue, allgemeine und freiere Gesetze werden sich um ihn und in ihm bilden oder die alten werden ausgedehnt und zu seinen Gunsten in freierem Sinne ausgelegt werden“, so Thoreaus Fazit.