Auf der Straße nach Süden
Vom Aufwachen am Öresund
Der Zug hat schon bessere Tage gesehen, darüber täuschen auch die bunten Schriftzüge an den Waggons nicht hinweg. Der Samt der harten Pritschen ist rau, es riecht staubig und ein wenig nach längst gegessenen Leberwurstbroten. Und doch erweist sich die Fahrt mit dem Nachtzug als perfekter Auftakt für eine Reise, die geprägt sein wird von wohltuender Langsamkeit.
Es ist schön, sanft geruckelt vom rhythmischen Stampfen des Zuges in den Schlaf zu gleiten, gelegentlich aufzuwachen und die Schatten der Bäume vorbeihuschen zu sehen, in der Ferne die Streiflichter der Städte. Das gute Gewissen angesichts der Ökobilanz fördert die Entspannung zusätzlich.
Und dann, am frühen Morgen schlaftrunken hinauszutreten auf den Gang, den anderen Reisenden zuzunicken und gemeinsam hinauszuschauen auf die weite Wasserfläche des Öresunds. Und auf die stolze Brücke, die seit der Jahrtausendwende Kopenhagen und Malmö verbindet. Die 16 Kilometer lange Brücke trägt maßgeblich dazu bei, dass Malmö den Aufschwung von der abgehängten Industriebrache zur hippen Metropole geschafft hat. Besonders deutlich wird die neue Zeit in Västra Hamnen, wo auf einstigem Werftgelände ein hochmodernes Viertel, entstanden ist, überragt vom „Turning Torso“, dem höchsten Büro- und Wohngebäude Nordeuropas, entworfen vom spanischen Architekten Santiago Calatrava.
Von Leuchtturmwärtern und Uma Thurmans Großmutter
Direkt im Bahnhof befindet sich die Station des Travelshops, wo die reservierten E-Bikes schon warten. Das Unternehmen verleiht nicht nur Räder, sondern bietet Rundumservice von organisierten Radtouren, über Gepäcktransfer bis hin zum Shuttle an genau den Punkt, wo man seine Tour beginnen möchte. Wenn man sich die Großstadtausläufer sparen möchte, zum Beispiel in Trelleborg. Vor 1000 Jahren stachen die Wikinger hier in See, heute landen die Autofähren aus Rostock an. Vor dem Losradeln ist die 1990 rekonstruierte Wikingerburg einen Besuch wert. Mit Burgwall und hölzernen Palisaden scheint sie das Vorbild für jeden deutschen Abenteuerspielplatz gewesen zu sein.
Wer zum ersten Mal auf dem E-Bike sitzt, kann sein Glück kaum fassen. Ungefähr so muss sich Obelix gefühlt haben, nachdem er in den Zaubertrank gefallen ist. Leicht und beschwingt fährt man Kilometer um Kilometer ohne zu ermüden. Für Paare oder Gruppen mit unterschiedlichem Fitnessniveau ist die elektrische Verstärkung eine gute Lösung. Jeder schaltet so viel Unterstützung dazu, wie er mag. Auch Steigungen sind kein Problem. Nicht dass es davon hier viele gäbe. Schonen ist vor allem ganz viel plattes Land. Ein großer Himmel wölbt sich über weiten Felden und der Wind vom Meer treibt die Wolken vor sich her. Der Fahrradweg Sydkustleden trägt zum Glück bei. Perfekt ausgebaut und ausgeschildert führt er direkt an der Küste entlang und wird an der Ostküste bei Simrishamn zum Sydostleden. Mehr als 500 Kilometer kann man von Helsingborg bis Växjö bequem radeln.
Nach 15 Kilometern erreicht man Smygehuk. Das Meer ist hier flach, die Strömungen gefährlich. Um allzu viele Schiffbrüche zu vermeiden, wurde daher 1876 ein Leuchtturm errichtet. Herr des Leuchtturms und des dazugehörigen Hostels im einstigen Wärterhaus ist seit dem vergangenen Jahr der australische Wahlschwede Mick Daly. Zusammen mit seiner Frau Joanna hat er die Bewirtschaftung der drei Gebäude auf der Wiese am Meer übernommen. Eigentlich hatten die Köchin und der Gastrounternehmer beschlossen, die Pandemie zum Anlass zu nehmen, endlich mal Pause zu machen. Aber dem Leuchtturm konnten sie dann doch nicht widerstehen. „Ich bin ein alter Seebär“, sagt Daly und lacht. Acht Jahre hat er in der australischen Marine gedient. „Und Master of the Lighthouse – das erfüllt nun wirklich einen Kindheitstraum!“ Dass er es ernst meint, beweist die frische Tätowierung des Turms auf seinem Unterarm, die er stolz präsentiert. Mick und Joanna Daly haben viele Pläne. Das Restaurant steht kurz vor der Eröffnung, im kleinen Tudahuiset, von wo der Warnton für die Schiffer aufs Meer geblasen wurde, ist ein gemütliches Café entstanden. „Hier in der Gegend werden jede Menge tolle Produkte angebaut, die werden bei uns zum Einsatz kommen“, erklärt Daly. Heute wird Cheesecake mit Brennnesselgelee serviert, bestreut mit leuchtend gelben Rapsblüten, dazu gibt es Limonaden, natürlich auch von hier. Selbst die Musik vom alten Plattenspieler, stammt von einer lokalen Band. „Ich liebe es, mich um Leute zu kümmern“, sagt Daly, was man dem charmanten Mann mit Alleinunterhalterqualitäten sofort glaubt. „Daher möchte ich einen Ort schaffen, an dem die sie gerne verweilen.“ Das täte man schon jetzt gerne, aber ein paar Hundert Meter weiter lockt Schwedens südlichster Punkt, markiert von einem Betonkreis auf dem Boden.
Touristen fotografieren einander, während der Wind ihnen die Frisuren ruiniert. Im Sommer kommen sie busladungsweise. Und kehren dann im Café Smyge ein, einem kleinen roten Holzhaus mit verglaster Veranda.
„Das ist das südlichste Café Schwedens“, sagt Betreiberin Katja Jakobson, eine zarte Frau mit Pferdeschwanz und Goldbrille. „Wir könnten hier servieren, was wir wollten und die Leute würden kommen“. Stattdessen machen sie alles selbst, vom Kuchen bis zur Mayonnaise. „Es macht einfach mehr Spaß, das was man tut, gut zu machen.“
Ein weiteres Projekt, das Jacobson so richtig gut gemacht hat, ist die kürzliche Wiederbelebung des Traditionsausflugslokals Pärlan mitten in den Dünen ein paar Kilometer weiter östlich, wobei der Midcenturycharme erhalten wurde.
Daher kehren auch die Einheimischen gerne bei ihr ein. Die drei alten Damen am Nachbartisch beispielsweise, die sich für ihren Besuch bunte Kleider angezogen haben. Eines ist sogar über und über mit Pippi-Langstrumpf-Motiven bedruckt. Das ist vielleicht weniger ein modisches Statement, als Ausdruck von Nationalstolz, mit dem es die Schweden durchaus ernst meinen. Kaum ein Haus, von dem nicht eine Fahne weht. Die schwedische oder auch die schonische, bei der das gelbe Kreuz nicht auf blauem, sondern auf rotem Grund prangt, was darauf hindeutet, dass die Region bis ins 17. Jahrhundert zu Dänemark gehörte.
Auf einem Stück Wiese direkt neben dem Fahrradweg steht eine nackte Frau aus Bronze. Die Arme hat sie weit ausgebreitet, das Gesicht der Meeresbrise zugewandt. Famntaget – Die Umarmung – heißt die Statue, die Bildhauer Axel Ebbe 1930 schuf. Model gestanden hat ihm Birgit Holmquist, die Großmutter von Hollywoodstar Uma Thurman. Die kam vor einiger Zeit mal vorbei, um die Vorfahrin zu besuchen. Gabriella Rönnow, die junge Tourist-Managerin der Region, hat bis heute nicht verwunden, diesen Moment verpasst zu haben. „Da passiert einmal richtig was und ich kriege es nicht mit!“ Eigentlich passiert hier nämlich nicht so viel und genau das macht den Reiz der Gegend aus. Die weißen Sandstrände sind endlos und die Häuser mit den kleinen Nebenhäusern, die sie alle haben, stehen weit auseinander, große Hotels, gar Bettenburgen gibt es hier nicht. Beim Radeln steigen einem abwechselnd der Honigduft der Rapsfelder und der würzige Geruch von Tang in die Nase. Die Dörfer mit den bunten Häusern und den blühenden Gärten sehen aus, wie aus dem Bilderbuch und wenn man doch mal einen Menschen sieht, nickt er freundlich.
Von Kommissar Wallander und den leckersten Zimtschnecken der Welt
Am Abend in Ystad sind die alten Fachwerkhäuser und die kopfsteingepflasterten Gassen in goldenes Licht getaucht. Die nasskalte Düsterkeit, die die Stadt in Henning Mankells Romanen prägen, ist im Frühsommer schwer vorstellbar. Auf den Spuren Mankells, beziehungsweise dem von ihm geschaffenen Kommissar Wallander, sind hier viele unterwegs.
„Der hat uns schon sehr geholfen“, sagt Peter Schönström, der zusammen mit seiner Frau Annika das Sekelgården Hotel in einem Fachwerkhaus aus dem 18. Jahrhundert betreibt. „Es kommen Scharen von Touristen mit den Romanen in der Hand auf der Suche nach den Originalschauplätzen“. Wer mag, kann inzwischen sogar Wallander-Führungen buchen oder die Studios besuchen, in denen die Wallander-Verfilmungen entstehen. Wie Schönström so leicht gebückt hinter dem Rezeptionstresen hervorschlurft und die Gäste in merkwürdig antiquiertem Deutsch begrüßt, könnte man sich ihn gut als Figur in einem Roman vorstellen. „Nein, nein“, wehrt er ab, er selbst komme nicht vor, sein Hotel allerdings sei erwähnt. Hier quietschen die Bodendielen und es dauert, bis ein Rinnsal warmes Wasser aus der Leitung kommt, Blümchentapeten und die alten Möbel in den verwinkelten Räumen haben einen ganz besonderen Charme.
Das Gute an der Bewegung in der frischen Luft ist, dass man ständig wohlverdienten Hunger hat. Und also schon recht bald nach dem Frühstück große Lust, ein wenig vom Fahrradweg abzuweichen, um bei Olof Viktors einzukehren. Das legendäre Café in einem Bauernhof mit seinen alten Holzöfen serviert hervorragende Backwaren, nirgendwo sollen die Zimtschnecken besser sein. Tatsächlich bieten die Vitrinen einen verlockenden Anblick. Kanelbullar, Wienerbröd oder die süßen knallgrünen Marzipankugeln laden zur Kaffeepause ein. „Fika“ heißt die auf Schwedisch und ist eine Art heiliges Ritual, auf das Schweden ein – manchmal sogar im Arbeitsvertrag verbrieftes – Anrecht haben.
Oder doch lieber etwas Herzhaftes? Dann könnte man bei Kåseberga Fisk Halt machen und ein Krabbenbrot essen und dabei wahlweise aufs Meer oder auf die Fischerjungs schauen, die mit ihren beeindruckenden Bärten, Gummistiefeln und den Latzhosen, die locker von einer Schulter baumeln, aussehen wie für einen Werbesport gecastet.
Von einem Schiff aus Stein und ganz und gar gesundem Schnaps
Wer in der Vorsaison kommt, kann Glück haben und hat „Ales Stenar“, auch das „schwedische Stonehenge“ genannt, für sich allein. Die 59 Steine vor 1.400 Jahren auf dem Plateau oberhalb der Steilküste in Form eines Schiffes angeordnet, symbolisieren das Schiff, das die Verstorbenen ins Totenreich übersetzt.
Die Schatten der vorüberziehenden Wolken lassen die Steine lebendig erscheinen. Wenn man sie berührt, meint man, eine besondere Energie zu spüren und ist geneigt, den Berichten über Geister zu glauben, die sich hier herumtreiben.
„Wo das Ufer zwischen Meer und Himmel fällt, hat Ale ein riesiges Schiff aus Steinen gebaut … ist an Bord gegangen auf dem Schiff des Todes, dem letzten, das er besitzt“ besingt der Dichter Anders Österling den magischen Ort.
An der Ostküste zwischen Friseboda und Åhus ist der Weg besonders schön. Weit weg von der Straße führt er durch lichte Wälder, vorbei an einsamen Buchten und Flussmündungen. Hier stehen noch die verwitterten Holzhütten der Aalfischer, inzwischen größtenteils ungenutzt, da der Aalfang, der hier an der Küste Tradition hat, aus Artenschutzgründen kaum noch stattfindet und auch die „Alagilles“, Partys mit Aal und Schnaps, entsprechend selten geworden sind. Schnapskultur – wenn auch ohne Aal – wird dafür in Åhus ausgiebig zelebriert. Die hübsche Hafenstadt ist geprägt, man könnte auch sagen überschattet, von der Absolut-Distille, seit 2008 Teil des französischen Konzerns Pernot Ricard, in der schwedischer Vodka für den Weltmarkt hergestellt wird. In einer Führung erfährt man staunend, dass es Gründer Lars Olsson Smith, der das Unternehmen 1879 geründete, gelungen ist, das Getränk von sämtlichen Giftstoffen zu befreien.
Die letzte Tour führt durch „Schwedens Brot“, die Felder, auf denen der Roggen für das berühmte Knäckebrot wächst nach Kristianstad, im 17. Jahrhundert vom dänischen König Christian IV als Grenzbefestigung gegen Schweden gegründet.
Nach einem Spaziergang durch die gut erhaltene Altstadt reicht die Zeit noch für eine kleine Paddeltour durch das Biosphärensreservat „Wasserreich“, in dem man Seeadlern und Kranichen begegnet, dann geht es mit dem Shuttle zurück nach Malmö.
Wieder im Zug, wohlig müde auf der Pritsche ausgestreckt, kommt einem ein Satz von Schweden-Fan Kurt Tucholsky in den Sinn: „Es gibt kein deutsches Normalgehirn, das bei dem Gedanken ‚Schweden‘ andere als angenehme, freundliche, gute Gedanken hätte.“ Dann ruckelt einen der Zug in den Schlaf.