Der Mann und der Rock

Der kahlköpfige Ingenieur trägt ein doppelreihiges Jackett. So weit, so gewohnt. Untenrum aber wird es überraschend: Zum Jackett kombiniert Mark Bryan nämlich einen knallengen Bleistiftrock und rote Stilettos. Mit diesem und ähnlichen Looks sorgt der 61jährige Familienvater, der von sich sagt, er sei „ein ganz normaler Typ, der schöne Frauen und Sportwagen mag“, für Furore. Über 500.000 Menschen folgen ihm auf Instagram, für den Onlinehändler Zalando stand er Modell, Zeitungen und Magazine von der Süddeutschen bis zu Esquire haben ihm Beiträge gewidmet. Die Vogue hat ihn gar für eine Modestrecke in Szene gesetzt. Dabei fand eine interessante Verwandlung statt: Während Bryan, wenn er sich selbst anzieht, aussieht wie eine Ingenieurin aus der süddeutschen Kleinstadt, in der der Texaner tatsächlich lebt, wurde er in der Vogue zur avantgardistischen Fashion-Ikone. Ist er  vielleicht tatsächlich Avantgarde? Ist es vorstellbar, dass es in ein paar Jahren gar nicht weiter auffällt, wenn ein Mann Rock und Highheels trägt?
Die unräpresentative Kurzumfrage im männlichen Umfeld ergibt: „Können wir uns nicht vorstellen.“ Selbst Nik Homann, der ziemlich selbstverständlich weiblich definierte Teile in seine Garderobe integriert, reagiert ablehnend. „Das ist einfach nicht cool. Bryan sieht verkleidet aus und irgendwie spießig“, sagt der 25jährige.
Mark Bryan selbst erklärt in den vielen Interviews, die er gibt, dass er Röcke und hohe Schuhe einfach schön findet und sich nicht etwa als Crossdresser versteht. „Wenn ich keine Grenze zwischen den Geschlechtern sehe, kann ich auch keine Grenze überschreiten“, sagt der gebürtige Texaner, der in Süddeutschland lebt.
Offenbar ist er da schon weiter als die meisten Menschen, für die der Anblick eines bulligen  älteren Herren im knallengen Rock und hohen Schuhen außerhalb von Travestieshows  zumindest irritierend ist. Irritierend vor allem deshalb, weil Bryans bevorzugter Kleidungsstil stark sexuell konnotiert ist und daher etwas von Fetisch bekommt, wenn ein Mann ihn trägt.
Die Wahrnehmung kann sich aber durchaus ändern. „Man darf nicht vergessen“, sagt Diana Weis, Expertin für Modetheorie und Professorin an der BSP Business School Berlin, „dass eine Frau im Herrenanzug um 1900 genauso bizarr gewirkt hat wie Mark Bryan heute.“ Die sexuelle Konnotation war durchaus gewünscht. Marlene Dietrich im Anzug wirkte ja nicht geschlechtslos. Der Reiz entstand gerade dadurch, dass eine erotische Frau in männlich konnotierter Kleidung auftrat. „Dass wir das heute normal finden und nicht mehr über die sexuelle Orientierung einer Frau im Anzug spekulieren, hat etwas mit Gewöhnung zu tun“, so Weis.
Und die Zeichen mehren sich, dass traditionelle Genderidentitäten in Auflösung begriffen  sind. Vorreiter findet man in Musikszene und Jugendkultur, auf Instagram und Tik Tok.
Im Dezember 2020 zierte Ex-Boygroup-Star Harry Styles als erster Mann das Cover der US-Vogue – im weißen Rüschenkleid von Gucci. Die Jungs der italienischen Band Mansekin,  Gewinner des European Song Contest 2021, tragen Augenmakeup und durchsichtige Spitzenblusen. Das taten zwar die Rockstars der 70er auch, neu ist allerdings, dass sich die  weiblichen und männlichen Mitglieder der Band nicht unterscheiden. Eine neue Generation von Models wie Ruby Rose Langenhein aus Australien sieht auf Fotos manchmal männlich, manchmal weiblich aus und bezeichnet sich selbst als “genderfluid”, ebenso wie US-Schauspielerin und -Sängerin Miley Cyrus.
Nachdem der 15-jährige Spanier Mikel Gómez im vergangenen Herbst der Schule verwiesen und zu psychologischer Beratung gezwungen wurde, als er im Rock zur Schule kam, taten es ihm mehrere Lehrer gleich, um ihn zu unterstützen. Die Bilder gingen unter dem Hashtag #LaRopaNoTieneGenero (Kleidung hat kein Geschlecht) viral.
Modedesigner reagieren entsprechend: In den Herrenkollektionen, unter anderem von Celine und Louis Vuitton, finden sich Röcke, enge Schnitte, pastellfarbener Satin, Leo-Prints und durchsichtige Hemden, die Männer auffordern, ihren Körper zur Schau zu stellen, wie es sonst Frauen vorbehalten war. Bei Gucci wurden Männer- und Frauenschauen zusammengelegt.
Designer Alessandro Michele erklärt: „Diese Entscheidung ist die natürliche Konsequenz aus meiner Sicht auf die Mode, die Frau und Mann als Einheit versteht.“
Der Berliner Designer William Fan hat das noch nie anders gesehen. „Genderrollen spielen für mich überhaupt keine Rolle“, sagt er. Er entwirft Mode, die für Männer und Frauen gleichermaßen gedacht ist, jedes Teil gibt es daher in vielen Größen. „Ich rate immer, eine Beziehung zu einem Kleidungsstück aufzubauen, egal, was dransteht, egal, wie die Knopfleiste geknöpft ist. Mode hat die Aufgabe, inklusiv zu sein, dann erst macht sie Spaß“, sagt Fan.
So richtig neu ist die flamboyante Männlichkeit ja auch gar nicht, nur etwas in Vergessenheit  geraten. Bis zur französischen Revolution trugen Männer Samt und Seide, Spitzen und Schleifen, weiße Strumpfhosen und hohe Absätze, genau wie die Frauen. Kleider und Röcke  allerdings nicht, es ging hier nicht darum, dass Männer weiblich aussehen wollten, die Männermode war einfach eine andere.
Erst mit erstarkendem Bürgertum wurden Männer zu funktional-praktischer Unauffälligkeit verpflichtet. Seither galt: Wer Macht und Einfluss hatte in der Gesellschaft, hatte mit Frivolitäten wie Mode nichts im Sinn zu haben. Körperliche Reize zu betonen, sich zu schmücken, wurde zur Domäne der Frauen, die ihre Schönheit zur Schau stellen mussten, um die Gunst der Männer zu erringen.
So hat die neue männliche Modelust auch etwas mit Emanzipation zu tun. „Dadurch, dass sich Frauen – zumindest in der westlichen Welt – behauptet haben, in den meisten Bereichen zu den Männern aufgeschlossen haben, erfährt das Schmückende, das Spiel mit der Mode eine Aufwertung“, sagt Diana Weis.
Junge Männer definieren ihre Rolle anders als ihre Väter. Damit ändern sich auch die Dresscodes. Nik Homann legt in seinem Job als Junior-Consultant einer großen Unternehmensberatung die Strass-Ohrringe und die geliebte Vivienne-Westwood-Perlenkette ab. Noch. Denn eigentlich sieht er das nicht ein. „Meine Kolleginnen tragen so viel Schmuck, wie sie wollen. Warum sollte ich das nicht auch dürfen?“