Gestaltung ist ein scharfes Werkzeug

Leben wir in spannenden oder langweiligen Zeiten?
Mark Braun: Unbedingt spannenden! Der Designbegriff öffnet sich. Kreislaufwirtschaft, soziale Themen, Regionalität – all das spielt im Designkontext mittlerweile eine große Rolle. Viele Manufakturen rücken ihre Produktionsstandorte zum Beispiel mehr in den Vordergrund. Mühle ist da ja total aktuell.
Andreas Müller: Design wird komplexer. Früher ging es in erster Linie um Ästhetik, weniger um die Fertigung. Jetzt müssen mehr Faktoren berücksichtigt werden: Wie können wir das Produkt recyceln? Wie können wir es möglichst ressourcenschonend produzieren? 

Was ist für Euch besonders wichtig?
MB: Mein Herz schlägt nach wie vor für Produkte. Ich möchte gute Qualität entwickeln, nichts Kurzweiliges, sondern Kulturgut. Da kommt mir der Zeitgeist entgegen.
AM: Das sehe ich ähnlich. Wir möchten das, wofür Mühle steht, möglichst nachhaltig umsetzen – hochwertige Produkte, die lange genutzt werden, um den Material- und Energieeinsatz zu rechtfertigen. 

Gibt es allgemeingültige Kriterien für ‚gutes Design?
MB: Ja, die gibt es. Zum Beispiel: Usability ohne komplexe Bedienungsanleitung, kultureller Bezug, also die Erkennbarkeit einer Region oder Lebensart. Für mich gehört auch räumliche und zeitliche Verortbarkeit dazu.

Und sind Ästhetik und Schönheit noch wichtig?
AM: Natürlich, wir sind doch sinnliche Wesen!
MB: Wir alle wollen uns wohlfühlen. Und die emotionale Komponente im Design hat viel mit Ästhetik zu tun. 

Mark, Du unterrichtest auch Design an der Hochschule der Bildenden Künste Saar. Was ist dein wichtigstes Anliegen als Dozent?
MB: Neugierig bleiben! Ich möchte vermitteln, dass man als Designer*in einen verantwortungsvollen Beruf hat. Man ist nicht nur dazu da, um Sachen hübsch zu machen, sondern man leistet einen wichtigen gesellschaftlichen Beitrag. Gestaltung ist ein scharfes Werkzeug, das Nachhaltigkeit, Funktion und Identität mit diversen Methoden und Techniken, die wir an der HBKsaar vermitteln, in Produkte und Systeme überführt, die den positiven Wandel der Gesellschaft mittragen können.

Andreas, welchen Anspruch hast du an eure Kollektion? Was muss sie aus der Designperspektive leisten?
AM: Sie muss widerspiegeln, was Mühle ist. Wertigkeit, Qualität, Langlebigkeit, Nachhaltigkeit. Im Idealfall sollte die Designsprache in sich konsistent sein. Das ist ein schwieriger Anspruch, weil die Entwicklung ja immer weitergeht. So gibt es bei uns durchaus Produkte, die wir aus heutiger Sicht anders entwickelt hätten. Aber sie hatten ihre Berechtigung, als sie entstanden sind und haben die Marke auch ein Stück weit geprägt. 

2017 wurde das von Dir, Mark, gestaltete Rasurset Hexagon lanciert. Du hattest Verortbarkeit als Dir wichtiges Kriterium erwähnt. Inwiefern ist die Serie bei Mühle im Erzgebirge verortet?
MB:  Ganz konkret natürlich durch die eingravierten Koordinaten auf dem Griff. Außerdem ist die archetypische Form des Hexagons ist eine sehr alte Werkzeuggriffform, die auf die Tradition des Werkzeugmachens in der Region um Stützengrün verweist.

Ihr arbeitet aktuell an einer zweiten gemeinsamen Serie, die 2024 erscheinen soll. Wie kann man sich die Zusammenarbeit vorstellen? Gibt es Bereiche, wo es zwangsläufig Diskrepanzen zwischen Designern und Herstellern gibt?
MB: Natürlich stolpert man oft über den finalen Verkaufspreis. Da muss man als Designer – gerade am Anfang der Karriere – viel lernen. Niemand will Produkte herstellen, die wie Blei im Regal liegen. Meine Kunden müssen verkaufen. Produkte müssen wirtschaftlich erfolgreich sein. Insofern sitzen wir im selben Boot, doch in der Regel ist die Preisfindung ein Prozess.

Hemmt es die Kreativität, sich in Produktionsprozesse hineinzudenken und Einschränkungen zu berücksichtigen?
MB: Wir sind immer gut beraten, wenn wir in der Ideenfindung weder zu sehr auf den Preis noch auf die finale Produktion schauen und erst überlegen, wie man etwas umsetzen kann, wenn die Ideen gesammelt sind.

Die Ästhetik der Barbierwelt ist allgemein recht nostalgisch, spielt bewusst mit altmodischen Formen und Bildern. Das Unternehmen Mühle wirkt mit seiner cleanen, klaren Sprache wie ein Gegenentwurf. Eine bewusste Designentscheidung?
AM: Es existierte ja schon eine Mühle-Ästhetik, bevor es dieses Revival der Barberszene gab. Das ging erst 2010 so richtig los. Wir haben damals entschieden, uns da nicht anzugliedern. Es gibt also einige Mühle-Produkte, die in diese Barber-Settings passen, die Mehrheit aber sicherlich nicht. 

Warum braucht es überhaupt immer wieder neue Designs? Man würde ja meinen, es gibt von allen Produkten ausreichend Auswahl – ob das nun Pullover sind, Bestecke, Stühle oder eben Rasierer.
AM: Als mein Bruder und ich die Geschäftsführung übernahmen, war das der Anspruch. Wir haben jedes Jahr komplett neue Kollektionen lanciert. Verrückt eigentlich. Irgendwann ist uns bewusst geworden, dass das nicht nur für den Handel unglaublich anstrengend ist, sondern auch im Hinblick auf den Entwicklungsprozess. Innerhalb eines Jahres kriegt man kein komplett neues, gutes Produkt auf die Bahn. Also haben wir umgedacht. Es geht uns jetzt darum, Klassiker zu etablieren, die wir sukzessive weiterentwickeln, bei denen wir mit Farben und Materialien spielen können. 

Es ist also nicht per se besser, ständig etwas Neues anzubieten?
AM: Auf keinen Fall! Wir schauen eher darauf: Wo gibt es Lücken im Portfolio? Welches Material haben wir noch nicht im Sortiment, welches Produkt würde noch zu uns passen? 

Und welche Lücke schließt Ihr mit der neuen Kollaboration?
AM: Eine Materiallücke: In der neuen Serie mit Mark arbeiten wir zum ersten Mal mit Glas.
MB: Und es wird sehr viel bunter als das, was man bisher von Mühle kennt. Durch emotionale Farbkompositionen und strenge Geometrie werden wir das Altmodische, das Glas ja immer auch anhaftet, neu interpretieren. Das hat es so bei Mühle auch noch nicht gegeben.

Wie lebt Ihr Eure Designliebe im Privaten aus?
AM: Es gibt bei allen Dingen, die ich anschaffe, einen Anspruch. Wenn ich etwas sehe, das mir gefällt, denke ich zunächst darüber nach: Muss das wirklich sein? Verändert das Objekt das Haus? Haben wir Platz dafür? Spontane Einkäufe passieren selten. Im Garten lebe ich meinen Hang zum Archaischen aus. Neulich habe ich in dem von mir sehr geliebten Schneidwarengeschäft Lorenzi in Wien eine Gartenschere aus Japan entdeckt, eine sehr besondere, ursprüngliche Form, gefertigt aus Carbonstahl – gebraucht hätte ich die nicht, aber ich freue mich, sie zu haben.
MB: Ich benutze meine eigenen Produkte – nicht um anzugeben, sondern weil ich sehen muss, wie sie im Alltag funktionieren, wie sie altern. Und ich repariere gerne Dinge, die damit persönlicher werden. Wir haben zum Beispiel eine Datsche, typischer DDR-Bau, die könnte ich komplett sanieren und ihr meinen eigenen Gestaltungsstempel aufdrücken, aber ich mag es, wenn eine Diversität entsteht aus Vorgefundenem und Eigenem. Was neue Designs angeht bin ich ein Fan von Stefan Diez. Seine Entwürfe sind im besten Sinne durchdacht und gut gestaltet!
AM: Langlebigkeit ist für mich auch sehr wichtig. Bei mir steht ein Sofa einer Nachbarin, die vor 20 Jahren gestorben ist. Nach ihrem Tod stand es vor dem Haus, sah aus wie neu. Und ergab so einen guten Match mit den Cocktailsesseln meiner Großmutter aus den 60ern. Leider ist die Couch mit Stroh gepolstert, das bröselt jetzt raus und macht ganz schön Dreck! Wir suchen schon seit Ewigkeiten eine Alternative, aber wir hängen halt dran.
MB: Es gibt mehrere Ebenen der Produktbindung. Erinnerung lässt einen an Dingen hängen, auch wenn sie vielleicht gar nicht dem eigenen Stil entsprechen. Und das mit der Stilkonsistenz wird ja manchmal auch etwas extrem. 

Inwiefern?
MB: Ich war neulich an der Kunsthochschule ECAL in der Schweiz als Juror mit anderen Juroren tätig. Und ich hatte meinen Kuli vergessen. Also habe ich einen aus dem Hotel mitgenommen. Ein total schäbiges Teil. Eine andere Jurorin sagte: Schmeiß weg! Aber das würde es ja noch schlimmer machen. Ich fand, wo er schon mal da war, sollte ich ihn auch benutzen, bis er auseinanderfällt. 

Gibt es ein Produkt oder einen Ort Eurer Kindheit, der Euch das erste Mal Eure Leidenschaft für Design vor Augen geführt hat?
MB: Meine Großeltern väterlicherseits waren recht wohlhabend. Er war Architekt, sie war Künstlerin und sie hatten ihr Haus gemeinsam sehr bewusst gestaltet. Ich habe dieses Haus geliebt. Der Kontrast von unserer Wohnung zu dort war immer beeindruckend. Irgendwann, als ich Jugendlicher war, trat der ganzheitliche Gestaltungsanspruch meiner Großeltern immer mehr in den Hintergrund und wurde von einer sehr pragmatischen Funktionalität überlagert. Es war augenscheinlich stilistisch nicht mehr kohärent. Und das fand ich traurig. Ich wünschte, ich hätte Ihnen helfen können, diesen ganzheitlichen Gestaltungsanspruch mit dem Älterwerden zu vereinen.
AM:  Ich erinnere vor allem an den Winter 1989. Ich war 13 Jahre alt. Die Mauer fiel. Unsere Freunde in der Schweiz riefen an und fragten: Wollt Ihr mit uns Silvester feiern? Wir beantragten ein Visum und fuhren hin. Dieses 70er-Haus, alles ganz konsequent durchgestylt, Vorhänge, Möbel, freier Blick auf die Berge – das hat mich umgehauen. Es war zwar etwas aus der Zeit gefallen, doch ein so hohes Designlevel hatte ich noch nie gesehen. 

Interview gemeinsam mit Franziska Klün, Foto: