Katharina von Storch sitzt in einer bunt geblümten Bluse auf der bunten Treppe am technischen Rathaus. Dass die Stufen seit drei Jahren aussehen wie aus Lego gebaut, hat, wie vieles, dass hier gerade passiert, mit dem Kulturhauptstadt-Titel zu tun. Der Zuschlag im Herbst 2020 hat in der Stadt einen Euphorieschub ausgelöst. Endlich mal nicht im Schatten der großen Schwestern Leipzig und Dresden stehen! Endlich mal einen echten Titel gewinnen und nicht nur den der deutschen Großstadt mit den meisten Crystal-Meth-Rückständen im Abwasser. Dass von Storch heute ihrem kreativen Geist folgt, „ins Schaffen gekommen ist“, hat sie Chemnitz zu verdanken, ist sie überzeugt. Weil es hier so viel Raum und Möglichkeiten gibt, etwas zu machen. Vor fünf Jahren kam die junge Frau mit den großen blauen Augen, die schon an vielen Orten gelebt hat, für ihr Masterstudium in die Stadt. „Hier habe ich zum ersten Mal ein Gefühl von Zuhause entwickelt“, sagt sie. Die studierte Medienpsychologin arbeitet für den „Garagencampus“, eines der vielen Projekte, in denen ehemalige Industriestandtorte für Kultur nutzbar gemacht werden. Außerdem hat sie das Projekt „Chemnitz Untold“ ins Leben gerufen, in dem sie Geschichten von Chemnitzern mit Migrationshintergrund sammelt. Spätestens seit im August 2018 nach einer Messerstecherei auf dem Stadtfest ein wütender Nazimob durch die Stadt zog, worüber sogar die New York Times berichtete, stellt man sich vor, dass Migranten sich hier unwohl fühlen. Von Storch findet es aber dennoch merkwürdig, dass das rechte Problem die Berichterstattung über die Stadt so sehr bestimmt. „Klar ist das relevant und es ist wichtig, dagegen etwas zu unternehmen. Und das tun hier auch viele. Aber es ist eben nur eine Facette des Lebens hier.“
Und wenn man an einem schönen Sommertag durch die Straßen der Innenstadt schlendert, die arabischen Familien sieht, die es sich im Park vor der Stadthalle auf der Wiese am Brunnen gemütlich gemacht haben und dem Straßenmusiker zuhören, der auf seiner Klarinette orientalische Lieder spielt, sieht Chemnitz aus wie jede andere multikulturelle Großstadt.
Ganz leicht, reinzukommen war es für von Storch dennoch nicht. „Dass ich nicht sächsisch spreche ist ein Nachteil“, sagt sie. Die Menschen hier sind eher zurückhaltend, vielleicht sogar ein bisschen argwöhnisch. „Wenn man aber Vertrauen aufgebaut hat, sind sie sehr herzlich und sehr füreinander da.“
Im Schatten des Nischels
Der mittelalterliche Rote Turm steht noch, das Alte Rathaus, die barocke Schnörkel-Fassade des Siegertschen Hauses, ansonsten war nach den heftigen Bombardierungen im Frühjahr 1945 von der Innenstadt kaum etwas übrig. Wiederaufgebaut wurde im Stil der DDR-Moderne. Da sind Kongresshotel und Stadthalle, Wohnhäuser und Hotels an der Straße der Nationen und natürlich die 13 Meter hohe Karl-Marx-Büste, 1971 vom sowjetischen Bildhauer Lew Kerbel gefertigt, mit dem sächsischen Wort für Kopf „Nischel“ genannt.
Aufgestellt wurde das Denkmal zwanzig Jahre nach der Entscheidung der Staatsführung der DDR, die Stadt in Karl-Marx-Stadt umzubenennen. Der berühmte Philosoph ist zwar nie hier gewesen, der Name betonte jedoch den Anspruch, aus der Stadt eine moderne sozialistische Vorzeigestadt zu machen. Als nach einem Bürgerentscheid die Stadt 1990 wieder ihren alten Namen bekam, überlegte man auch, die Büste wieder abzubauen. Aus der ganzen Welt meldeten sich Interessenten und man entschied, ihn doch zu behalten – marketingtechnisch sicherlich eine gute Idee.
Der Himmel ist blau, die Brunnen plätschern, die Parks blühen und dennoch liegt eine gewisse Schwere über der Stadt. Es fehlt das urbane Flair, es fehlen interessante Lokale und Geschäfte, alles scheint irgendwie zu groß, zu unzusammenhängend, zu leer.
Das war nicht immer so. Im 19. Jahrhundert stieg Chemnitz zu einer der wichtigsten Industriemetropolen Deutschlands auf, zum führenden Zentrum der Textilindustrie und des Werkzeugmaschinenbaus, mechanische Webstühle und Lokomotiven wurden in großem Stil exportiert. Zwischen 1850 und 1914 wuchs die Bevölkerung von 31.000 auf über 320.000 Einwohner. Neubauten wie das König-Albert-Museum, das Stadttheater, das Neues Rathaus, prächtige Warenhäuser wie das Kaufhaus Tiez und das Kaufhaus Schocken – die heute archäologisches bzw. und naturkundliches Museum beherbergen – bezeugten den wachsenden Wohlstand. Gemessen am Steueraufkommen pro Kopf galt Chemnitz in den Jahren vor dem ersten Weltkrieg gar als wohlhabendste Stadt Deutschlands.
Davon zeugen nicht nur die vielen stolzen Industriegebäude mit ihren Spitzbögen Giebeln und Backsteinschloten, die in den Himmel ragen wie anderswo die Kirchtürme, sondern auch die prächtigen Villen auf dem Kaßberg und dem Schlossberg, in denen sich die zu Wohlstand gekommenen Bürger repräsentativ einrichteten.
Kulturmanagement vom Feinsten
Die Kulturhauptstadt Europas Chemnitz 2025 GmbH, untergebracht in einem ehemaligen Bankgebäude mit grauem Teppichboden, hellen Deckenstrahlern und Glasfronten zur Straße ist dafür zuständig, das ambitionierte Kulturhauptstadtprogramms umzusetzen. Die Zuständigkeit in Person ist Geschäftsführer Stefan Schmidtke. Der 55jährige läuft energiegeladen durchs Foyer und drapiert sich fürs Foto in ein hölzernes C. Man merkt ihm an, dass er es gewohnt ist, in der Öffentlichkeit zu stehen. Der Dramaturg und erfahrene Kulturmanager hat schon viele kreative Stationen hinter sich, unter anderem als Kurator Schauspiel bei den Wiener Festwochen. Was er hier macht, „ist Kulturmanagement vom Feinstern“. Im Bewerbungsbuch, dem so genannten „Bid Book“ stehen 72 Projekte. „Aber was da drinsteht, sind Visionen. Unser Job ist es, uns da ordentlich Millimeter für Millimeter durchzuarbeiten. Zu fragen: Gibt es die Leute? Können die das? Können die Drittmittel auftreiben? Geht das rechtlich?“ Für so einen Job, muss man bereit sein, sich unbeliebt zu machen. Jeder will etwas von ihm, er ist bekannt in der Stadt. Leute kurbeln die Autofenster runter, wenn sie ihn sehen und fragen, warum Bordsteinkanten nicht endlich repariert, Fassaden nicht gemacht werden und der Geldautomat am Bahnhof nicht Englisch spricht. Er bekommt stapelweise Briefe, manche in Runenschrift und wird regelmäßig von der Presse angegriffen, wenn die Zuständigkeit für etwas zurückweist. Auch ist Chemnitz nicht allein Kulturhauptstadt geworden, sondern zusammen mit 38 umliegenden Kommunen. Jede Menge Menschen also, die mitreden wollen – und mitmachen. „Angreifen, zugreifen, was erfinden, auf die Beine stellen – das ist typisch Chemnitz. Los geht’s und druff. Das ist einerseits sehr schön, weil alle wollen, andererseits sind wir ein geordnetes EU-Projekt und müssen abwägen und auch mal etwas zurückweisen. Da befinden wir uns ständig in einem Feld des Wiederstreits.“
Die Befindlichkeiten der Chemnitzer Kreativszene sind nicht einfach. Einige fürchten, dass vom kantigen, rauen Geist des Bid Books nicht viel übrigbleibt, dass doch wieder alles piefig und heimattümelig wird. Andere beklagen, dass es an Unterstützung für Orte fehlt, die schon lange da sind. In der Stadt, die von Industrie und Technik geprägt ist, die nie eine Kunsthochschule hatte, findet die Kulturszene – abgesehen von den durchaus renommierten Museen und dem Theater – eher im Verborgenen statt. „Es gibt da immer diese Idee: Wir machen das für uns“, sagt Katharina von Storch. Und jetzt, wo es die Chance besteht, dass auch andere hinschauen, scheint man sich in einer merkwürdigen Mischung aus Minderwertigkeitskomplex und Stolz uneinig, ob man das überhaupt will.
Auf dem Sonnenberg
Eine echte Chemnitzer Macherin ist Grit Stillger, Projektleiterin im Stadtplanungsamt. Mit schnellen Schritten führt die zierliche Frau mit dem roten Kurzhaarschnitt über das Gelände der Stadtwirtschaft, der 1891 eingerichteten Stadtreinigungsanlage.
Das 12.000 Quadratmeter große Areal mit fünf Gebäuden, war lange Zeit vor sich hin verfallen. Jetzt wird hier eifrig gebaut. Obwohl dies nur eine von 30 Interventionsflächen genannten Infrastrukturprojekten ist, scheint die Chefin mit jedem Detail vertraut. Sie führt durch die zukünftigen Werkstätten und Ateliers, hinauf in den mit Balken gestützten Dachstuhl, in dem ein Veranstaltungsraum entsteht, zeigt, wo die Wendeltreppe hinkommt und wo der barrierefreie Eingang. Das bisher verborgene Areal wird zum angrenzenden Sonnenberg-Viertel geöffnet, die geplante Kantine für alle zugänglich sein. Der Sonnenberg, einst Elendsviertel, zieht inzwischen Studierende und Kreative an, große Altbauwohnungen gibt es für wenig Geld und mit der Bar Lokomov, dem Club Nicola Tesla und der Pizzeria Augusto auch Orte zum Ausgehen. Bei allem Enthusiasmus für das, was hier passiert, macht sich Stillger keine Illusionen. „So schnell boomt das hier bei uns nicht.“
Aber langsam anfangen könnte es ja. Das wäre doch schon was.