Aus der Nische winkt ein grinsendes Mini-Skelett, in den Fugen der unverputzten Backsteinwand stecken Plastikblumen, auf Sesseln und Sofas türmen sich bunt bestickte Kissen: Odély Tebouls Neuköllner Wohnung ist zugleich das das Atelier der Modedesignerin. Auf einer Kleiderstange hängen in kunstvoller Handarbeit gefertigten Teile. Hoodies mit Ärmeln aus Häkelspitze, Leggings mit aufwändigen Stickereien und Applikationen aus Kristallen und Pailletten. Mexikanischer Totenkult, indische Götterwelt oder der 1-Euro-Shop auf der Hermannstraße – Odély Teboul findet Schönheit überall. Ihre Entwürfe sind von eigenwilliger und ein wenig widerspenstiger Schönheit. Wie die der Französin selbst, die ein wenig aussieht wie von Picasso gemalt, in seiner vorkubistischen Phase.
Eine Woche vor der Fashion Week hat Odély Teboul alle Hände voll zu tun. Zum zweiten Mal schon wird sie die Entwürfe ihres Labels Lou de Bètoly im Vogue-Salon im Kronprinzenpalais zeigen, direkt am Anfang des Boulevards Unter den Linden. Es ist die höchste Würdigung, die man als Berliner Modedesignerin gerade erhalten kann.
Auch wenn es Tebouls Label Lou de Bètoly erst seit gut einem halben Jahr gibt, ist die Französin alles andere als eine Newcomerin. Genau genommen war sie schon einmal die große, wenn nicht die größte Hoffnung der Berliner Modeszene überhaupt. Nachdem sie in Paris Modedesign studiert und für Yohji Yamamoto und Jean Paul Gaultier gearbeitet hatte, gründete sie zusammen mit Annelie Augustin 2009 das Label Augustin Teboul. Filigrane Häkeleien, fein wie Spinnweben, Drapierungen aus Chiffon, Netzoptik kombiniert mit Leder und alles in Schwarz – der eigenwillige Stil von Augustin Teboul machte ab der ersten Kollektion Furore, vorgestellt 2011 auf der Berliner Fashion Week. Prompt regnete es Ehrungen. Den Preis des „Festival des Jeunes Créateurs de Dinard“, den „Start your Fashion Business Award“ des Berliner Senats, der „European Woolmark Prize“, der Preis der deutsch-französischen Handelskammer – quasi jeden Preis, den man in Europa mit Mode gewinnen kann, gewannen Odély Teboul und Annelie Augustin. Die Modepresse liebte die düstere Eleganz, die sich fotografisch wunderbar in Szene setzen ließ. Stars wie Lady Gaga, Madonna und Beth Ditto trugen die Kreationen auf roten Teppichen und großen Bühnen. Und in Berlin wurde gejubelt.
Endlich! Endlich gab es in der Stadt ein Label, das es ganz nach oben schaffen konnte. Das ernst genommen werden würde, in einem Atemzug genannt mit den Großen, den Gaultiers, Pradas und Guccis der Branche. Ein Label, das der Welt schon noch beweisen würde, dass die Modestadt Berlin die Fährte von Paris und Mailand aufgenommen hatte.
Um aber zu verstehen, warum ein zartes Pflänzchen wie dieses junge, ambitionierte und talentierte Modedesignerinnen-Duo mit so viel Erwartung überladen wurde, muss man die eigentümliche Mischung aus Minderwertigkeitsgefühl und Größenwahn verstehen, die die Berliner Modeszene der letzten zehn Jahre prägte. Als 2007 die amerikanische Veranstaltungsagentur International Management Group, kurz IMG, mit finanzieller Hilfe von Mercedes-Benz zum ersten Mal das Bierzelt am Brandenburger Tor aufschlug und zum Schauplatz von Modeschauen machte, war das Geschrei groß. „Größer als Paris“ würde man bald sein, riefen die einen – während die anderen hämisch darauf hinwiesen, dass Berlin für immer in der Provinzliga spielen würde.
Heute, sieben Jahre und ein Label später, wunderte sich Odély Teboul noch immer, dass sie damals weniger nach ihren Ambitionen und Inspirationen gefragt wurde –sondern bloß danach, warum sie denn von Paris nach Berlin gekommen war. Ob das bedeute, dass Berlin jetzt die nächste Welthauptstadt der Mode werden würde? Wenn sie davon erzählt, lacht sie ihr tiefes, ein wenig raues Lachen. Ihr Umzug war kein Statement, sondern einfach der Tatsache geschuldet, dass ihre Labelpartnerin Annelie eben nicht in Paris leben wollte. Und es lief eigentlich auch toll mit Augustin Teboul: Viel Lob, viel Ehre, die vielen Preise. Dennoch verkündeten die beiden 2017 zum Entsetzen der Branche und der Stadt das Ende des gemeinsamen Labels. „Annelie wollte nicht weitermachen“, sagt Teboul lapidar. Die Gründe seien eher persönlich gewesen.
Wahrscheinlicher ist, dass auch Augustin Teboul von der harten Realität der Berliner Mode eingeholt wurde, wie schon viele vor ihnen. Die vier hochbegabten Designerinnen von Pulver gaben ebenso auf wie Derya Issever and Cimen Bachri von Isseverbahri, Nadine Möllenkamp und Silke Geib von Blaenk und der gefeierte Bobby Kolade – allesamt preisgekrönt vom Berliner Senat. Ettina Berrios Negrón und Jacqueline Huste bespielen nur noch ihre kleinen Läden in Berlin Mitte.
Dann die Erkenntnis, dass es auch nach Jahren nicht leichter wurde. Dass es nie einfach von selbst laufen würde. Dass Talent, tolle Ideen, Lob und Preise ein Teil des Erfolgs sind. Dass die viel schwerere Aufgabe aber ist, Mode tatsächlich zu verkaufen und davon gut leben zu können. Denn wie Augustin Teboul geht es in Berlin und überhaupt in der Mode vielen: Wer keine reichen Eltern hat oder einen geduldigen Investor, hangelt sich mühsam von Saison zu Saison. Arbeitet rund um die Uhr und weiß doch nie, ob die Miete nächsten Monat reinkommt. Die Branche lebt von Selbstausbeutung. Ein selbstständiger Modedesigner muss eine Vielzahl von Jobs bewältigen, sich um die Fertigung der Kollektionen kümmern, um Marketing und Vertrieb, und dabei immer weiter kreative Ideen für die nächste Kollektion entwickeln.
Hat sich die anfängliche Euphorie erst gelegt, stehen viele selbständige Modedesigner vor den gleichen Fragen: Ist das das Leben, das ich führen will? Will ich Familie haben oder, wenn ich schon eine habe, will ich meine Kinder auch irgendwann mal sehen? In Mailand und Paris ist das die Lebensphase, in der viele Modemacher bei mittleren und großen Labels als Designer anheuern, um sich um Details, Stoffe und Oberteile zu kümmern. Auftragskreativität, ja, aber sicher und anständig bezahlt. In Berlin aber gibt nur einen einzigen Arbeitgeber in der Mode: Zalando.
Der Onlineversand, der mittlerweile 6000 Mitarbeiter an verschiedenen Standorten beschäftigt und 140 Millionen Euro in sein neues Gebäudeensemble am Ostbahnhof investiert hat, ist der unscheinbare Riese der Berliner Modebranche. Zalando beschäftigt für seine diversen Eigenmarken hunderte Designer, für seine Fotoproduktionen engagiert das Unternehmen massenhaft Fotografen und Stylisten – die zum größten Teil allein von den oft kunstsinnigen Fotostrecken und Produktionen für kreative Kleinlabels nicht leben könnten.
Für viele dieser Kreativer ist der Deal mit Zalando eine Art persönliches Sponsoring ihrer Herzensprojekte. Über die Arbeitsbedingungen des Onlineversandes wird zwar privat viel gemeckert, öffentlich möchte aber niemand die Hand beißen, die Futter verteilt. Denn ohne den Job, der die Miete zahlt, kann man in Berlin von der Mode alleine nicht leben. Stärkstes Indiz: So viele Talente Berlin in den elf Jahren seit der Gründung der Fashion Week auch hat kommen sehen, so viele Preise der Senat an junge Labels auch vergeben hat: den allergrößten Teil gibt es nicht mehr (habe ich oben eingefügt). Auch die Fashion Week hat, seit Mercedes-Benz sein Sponsoring verlagert hat, an Größe und Tamtam eingebüßt. Das in den vergangenen Jahren oft von eigenartigen Sponsoren und eher finanzkräftigen als kreativ überzeugenden Labels dominierte Zelt am Brandenburger Tor wurde dieses Jahr erst gar nicht aufgebaut. Demut ist in der sonst oft größenwahnsinnigen Stadt eingezogen. Paris und Mailand sind noch immer in weiter Ferne. Aber vielleicht gibt es einen anderen Weg?
Arrangements aus weißen Rosen schmücken den Saal des Kronprinzenpalais, es wird Champagner ausgeschenkt. Kaschmirmäntel sind hier zu sehen statt Parkas, Ledertaschen statt Stoffbeutel. Beim Berliner Vogue-Salon geht es explizit schick zu. Als IMG im vergangenen Jahr ankündigte, sich aus Berlin zurückzuziehen, wurde bereits das Ende des Berliner Modegeschehens beschworen, hier im Kronprinzenpalais aber zeigt sich, dass von Ende keine Rede sein kann.
Nur wenige Stunden nur dauert die Veranstaltung inmitten klassizistischer Pracht. Und doch hat sie sich in den letzten Jahren zur wichtigsten der Fashion Week entwickelt. Die Einladungen sind begehrt. Es hat sich herumgesprochen, dass man hier nicht nur eine hohe Dichte an gut gekleideten Menschen finden kann, sondern auch die interessantesten Designer, die Deutschland derzeit zu bieten hat. Noch wichtiger: Internationale Journalisten und Einkäufer kommen hier gerne vorbei, weil die Auswahl überschaubar und gut kuratiert ist. Mitinitiiert hat den Berliner Salon Christiane Arp, Chefredakteurin der Deutschen „Vogue“, die sich seit Jahren unermüdlich um den deutschen Modenachwuchs kümmert. Und die, welch Glück, ein großer Fan von Odély Teboul ist.
Mit einem Glas in der Hand steht Teboul neben den grazilen, weißen Puppen, die ihre Mode tragen: Ein Traum aus Tüll, geschmückt mit kleinen Peace-Zeichen und Häkelblumen, ein buntes Minikleid, auf dem ein Minion prangt, eine lustige Zeichentrickfigur mit Glubschaugen. Obwohl Tebouls kreative Handschrift gut erkennbar ist, ist Lou de Bètoly deutlich bunter und witziger als Augustin Teboul es war. Schwarz? War gestern. Mit ihren irritierenden Kreationen macht Teboul nun exakt die Art von Mode, die in Deutschland Kopfschütteln provoziert. Und die Frage, wer denn bitteschön so etwas tragen solle?
Lou
Hierzulande, zeigen die Kollektionen von Lou de Bètoly, wird selten verstanden, dass Mode nicht das gleiche ist wie Bekleidung. Im Idealfall ist Mode die Vision, die Bekleidung inspiriert. Die gut übersetzt zu dem wird, was wir in Zukunft tragen werden. Wenn man auf den Laufstegen das sieht, was so schon im Schrank hängen könnte, wo bliebe dann die innovative Kraft?
„Chaos und Surrealismus sind die wichtigsten Inspirationen für meine Entwürfe“ sagt Teboul. Sie lacht. Sie versteht sich selbst als Punk, im Geist, in ihrer Haltung. Aber feiner. Ihre Eingebungen verdanke sie einem Zustand, den sie „Oneirismus“ nennt, sagt sie: „Im Wachzustand erfahrene traumartige, oft verstörende Illusionen.“ Verstörend sind aber nicht nur die Entwürfe, sondern bei Lou de Bètoly eben auch die Produktionskosten. Das Häkeltop etwa, das Teboul an diesem Tag trägt, würde im Verkauf etwa 2000 Euro kosten. Einfach weil die Produktion von Lou de Bètoly-Teilen extrem aufwändig ist, für die Massenproduktion taugen sie nicht. Leicht verkäufliche Teile zu produzieren, darauf hat Odèly Teboul aber keine Lust. „Es gibt ohnehin von allem viel zu viel“, sagt sie.
Avantgarde-Mode wie die von Lou de Bètoly geht in Deutschland nicht besonders gut. Denn erstens geben die Deutschen generell nicht gerne viel Geld für Kleidung aus. Und wenn, dann eher für große und bekannte Marken. Und überhaupt ist selbst in Berlin zu viel Extravaganz suspekt. Berlin ist die Hauptstadt des Downdressings, selbst für die Oper machen nur einige alte Damen sich noch fein. Sonst aber ist Deutschland ein Land der Funktionskleidung und Berlin eine Stadt für Streetwear und Basics.
Und die kleine Schar von Enthusiasten, die tatsächlich gerne exzentrische Stücke und besondere Entwürfe trägt, arbeitet leider zumeist in den prekären Jobs der Kreativbranche – oder gleich selbst in der Mode. Erst als Augustin Teboul schließen und seine Kleidung zu Ramschpreisen verkaufen musste, sah man die Kreationen wirklich auf Straßen und auf Partys. So ist Berlin.
Odèly Teboul weiß das. Aber sie ist entschlossen, alleine weiter zu machen. „Wir haben uns bei Augustin Teboul keine Villen mit Swimmingpools gekauft“, sagt sie. „Aber wir konnten von unserer Arbeit leben. Das bedeutet für mich Erfolg.“ Größeres Glück als jeden Tag das zu tun, was sie tun will, kann sie sich nicht vorstellen. Noch nicht.