Rauskommen, runterkommen

Waldbaden in der Schorfheide

Einfach quatschend in den Wald latschen ist nicht. Am Rand der Wiese, wo die ersten Kiefern wachsen, mahnt Martin Fletcher zum Innehalten. „Wir betreten jetzt den Wald“, sagt er mit feierlicher Stimme. Aufmerksam, schweigend. Die Füße nehmen den mit Nadeln und Laub gepolsterten Boden wahr, der Blick gleitet an den Stämmen nach oben wie an den Säulen einer Kathedrale. Langsam geht Fletcher voran und zitiert Goethe: „Ich ging im Wald so vor mich hin, und nichts zu suchen, das war mein Sinn.“ Der Mann mit dem imposanten grauen Backenbart und den leuchtend blauen Augen ist zertifizierter Entspannungscoach und Hypnosetherapeut. „Nichts zu suchen, heißt neugierig sein, offen für das, was einem begegnet“, erklärt er. Seit einigen Jahren hat Fletcher sich auf das Waldbaden spezialisiert, eine Methode der Stressreduktion und Gesundheitsvorsorge, die insbesondere im stressgeplagten Japan sehr populär ist. In der Nähe großer Städte gibt es extra Waldstücke für „Shinrin Yoku“, das sogar von der Krankenkasse bezahlt wird.
Tatsächlich ist der Aufenthalt im Wald nachgewiesenermaßen gesund. Das liegt in erster Linie an den Terpenen, aromatischen Kohlenwasserstoff-Verbindungen, mit denen Pflanzen kommunizieren. Die senken bei Menschen Stresshormone, stärken das Immunsystem und erhöhen den Spiegel von Anti-Krebs-Proteinen. Wo viele Kiefern stehen wie hier in der Schorfheide, ist der Terpengehalt sogar besonders hoch.
Beim Waldbaden geht es aber vor allem auch um die geistig-seelische Gesundheit. Die wird durch die achtsame Verbindung mit der Umgebung gefördert. Einfach einmal ein paar Minuten dastehen und das Schattenspiel der Blätter auf dem Boden beobachten, die Sonne auf dem Wasser des Sees, der zwischen den Stämmen sichtbar wird. Tief einatmen und riechen. Den Vögeln zuhören und dem Rascheln der Blätter. Mit den Fingern die Beschaffenheit spröder alter Rinde fühlen. Wir sind sinnliche Wesen, Glück zu erleben, ist eine sinnliche Erfahrung. Im bildschirmdominierten Alltag kommt die oft zu kurz. Im Wald können wir unsere Sinne aufwecken. „Shirin Yoku hat keinen festgeschriebenen Ablauf“, erklärt Fletcher. „Es gibt eine Reihe von Übungen, die ein Trainer nach Bedarf ergänzt und erweitert.“  Bei der Übung „Himmel und Erde“ legt man die Fingerspitzen an den Stamm eines Baumes und lässt den Blick langsam vom Boden in den Himmel und wieder nach unten gleiten. Dabei versucht man wahrzunehmen, wie die Energie des Universums durch den Stamm in die Finger fließt. „Sensible Menschen spüren da etwas“, sagt Fletcher. Ob das universelle Energie oder aufsteigende Feuchtigkeit ist, ist nicht so wichtig, findet er. Sehr beruhigend wirkt „Mein Freund der Baum“, eine Übung, bei der man sich an einen Stamm lehnt und sich darauf konzentriert, dass da jemand – oder etwas – ist, das einen hält, an das man seine Last abgeben kann. Von Bäumen umringt auf dem Boden zu liegen und in den Himmel zu schauen löst ein tiefes Geborgenheitsgefühl aus. „Der Wald ist eine therapeutische Landschaft“, sagt Fletcher. Möglicherweise ja sogar die Heimat unserer Seele. Die Verbundenheit mit dem Wald lebt in unseren Genen, seit unsere Vorfahren zu Füßen besonderer Bäume und auf „heiligen Hainen“ zu Geistern und Göttern beteten, ist der Ethnobotaniker Wolf-Dieter Storl überzeugt. „Ein großer alter Baum ist eine Brücke zu den anderen Welten; über diese kommen Ahnengeister um wiedergeboren zu werden“, heißt es in seinem Buch „Wir sind Geschöpfe des Waldes“. Und selbst der eher unsentimentale Großstadtbewohner Erich Kästner schrieb: „Mit Bäumen kann man wie mit Brüdern reden und tauscht bei ihnen seine Seele um.“

Foto: Malte Jäger

Vor dem Verlassen des Waldes rät Martin Fletcher, sich einen Stein, einen Tannenzapfen oder einen kleinen Ast auszusuchen, der gut in der Hand liegt. Den kann man mit der Ruhe und Kraft des Waldes aufladen und mit nach Hause nehmen.

Yoga in der Breitenteicher Mühle
Kaum geöffnet werden die Augen schon wieder geschlossen. Zwischen Bett und Yogaraum liegen nur ein paar Schritte über den Hof. Der Tag beginnt mit Meditation. Einatmen, ausatmen, wieder einatmen. Draußen bellen gelegentlich die Hofhunde, sonst ist es still. Nur wenn man ganz aufmerksam ist, hört man das leise Grollen des Mühlrades im Erdgeschoss. Am Ende der Meditation ist es hell geworden, durch die bodentiefen Fenster sieht man die sanften Hügel des Biosphärenreservates Schorfheide-Chorin. Es folgt der aktive Teil der Morgenpraxis. Erst einmal genüssliches Dehnen, Strecken und Ausklopfen der Glieder. Sonnengrüße, Drehungen und Vorbeugen.

Foto: Malte Jäger

Die Yogaübungen, die Brigitte Zehethofer im viertägigen „Yoga & Atem“-Retreat in der Breitenteicher Mühle unterrichtet, sind keine schweißtreibende Akrobatik. Vielmehr geht es um Haltungen und Abläufe, die einfach genug sind, dass die Aufmerksamkeit für die Beobachtung der eigenen Bewegungsabläufe zu Verfügung steht – und für die Beobachtung und Steuerung des Atems. Der Atem ist für die erfahrene Yogalehrerin und Yogatherapeutin das Wichtigste. „Über den Atem können wir lernen unser Nervensystem zu steuern“, sagt Zehethofer, der man ihre österreichische Herkunft deutlich anhört.

Zufällig im Partnerlook: Die Autorin und Yogalehrerin Brigitte Zehethofer

Daher wird dem Pranayama, wie die Atemübungen im Yoga heißen, viel Zeit gewidmet. Es wird Wechselatmung geübt, bei der abwechselnd ein Nasenloch zugehalten wird, Feueratmung, die wegen ihrer energetischen Wirkung auch „Espresso der Yogis“ genannt wird und vieles mehr.
Nach der Morgenpraxis gibt es Frühstück. Das Buffet mit Hirseporridge, frischem Birchermüsli, Salaten, Gemüse, Brot und selbst gemachten Aufstrichen ist außergewöhnlich gut – auch alle anderen Mahlzeiten sind vegetarisch-vegane Gourmetküche.
Nicht nur das Essen, sondern auch das Haus selbst ist etwas Besonderes. Die denkmalgeschütze Mühle mit zwei Nebengebäuden liegt mitten im Naturschutzgebiet. Speziell gefertigte blaue Fensterrahmen, Fußbodenheizung unter den Holzböden,  Natursteinfliesen in den Bädern – mit der hochwertigen Restaurierung hat sich der ehemalige Rechtsanwalt und Insolvenzverwalter Frank Hantsche einen Traum erfüllt. „Hohe Qualität und dennoch klösterlich schlicht“ beschreibt er das Konzept. Die Kraft der Welwe, die das alte Mühlrad antreibt, erzeugt grünen Strom, es gibt eine eigene Wasserversorgung und Abwasseraufbereitung, das Haus hat insgesamt eine positive Energiebilanz.
Hantsche verliebte sich bereits in den 1990er-Jahren in das damals verfallene Gebäude, als Freunde von ihm es kauften, um dort Kunstprojekte zu realisieren. Als das schief ging, übernahm und sanierte er die Mühle und eröffnete 2015 gemeinsam mit seiner Frau das Seminarhaus. Um die besondere Energie des Ortes zu pflegen, finden nur Veranstaltungen statt, bei denen es um „gelebte Spiritualität“ geht. Hantsche und seine Frau Erika selbst geben regelmäßig Liebesseminare für Paare. Nach dem Frühstück ist Zeit zum Spazierengehen. Die meisten Teilnehmerinnen – bis auf einen Mann sind ausschließlich Frauen da – sind zu zweit oder zu dritt gekommen, viele besuchen auch in Berlin regelmäßig Brigittes Klassen.
„Eine Stunde fahren und doch ganz weit weg sein“, sagt eine Teilnehmerin, das sei das Schöne an so einem Retreat. „Eine kurze Auszeit von Job und Familie ist mein ganz persönlicher Luxus“, sagt eine andere.
In alle Richtungen ist die Mühle von Feldern, Wiesen und kleinen Waldstücken umgeben. Man kann endlos weit laufen, ohne jemandem zu begegnen. Auf der Hügelkuppe wiegt sich eine Reihe Birken im milden Herbstwind, die Furchen der Äcker sehen aus wie mit dem Kamm gezogen. Findlinge liegen auf den Wiesen und grau verwitterte Baumstämme, die aussehen wie Saurierknochen. Aus dem Gebüsch flattert aufgeschreckt ein Fasan und eine Gruppe Schafe steht reglos, alle in die gleiche Richtung ausgerichtet, als hätte sie jemand so arrangiert. Durch den weiten Himmel ziehen Formationen von Wildgänsen.
Am Nachmittag folgt die zweite Yogasession des Tages. In so einem Retreat ist Zeit für Experimente wie die „blinde Stunde“, die wir komplett mit verbundenen Augen absolvieren. Zunächst wirkt das verunsichernd, dann klappt es ganz gut. Nur die Balanceübungen fallen deutlich wackeliger als gewohnt. Brigitte ermutigt uns mit einem kleinen Exkurs zu „Upaksha“, was Nachsicht und Fehlerfreundlichkeit bedeutet, in der Yogalehre als eine der vier Herzensqualitäten gepriesen. Während sie unterrichtet, wechselt Brigitte ganz unangestrengt zwischen humoristischen Alltagsbetrachtungen und tiefen Weisheiten.
Vor der Abreise am Sonntag gibt es noch einen gemeinsamen schweigenden Spaziergang. Still stapfen wir nebeneinanderher. In der Gruppe fühlt sich Stille anders an, als wenn man alleine ist. Auf dem Hügel kommen wir zum Stehen, in der Ferne drehen die Windräder langsam ihre Flügel. Einige schließen die Augen und wenden die Gesichter der Sonne zu. In die Stille hinein fordert Brigitte uns auf, Dankbarkeit zu spüren für das Wunder des Daseins. Das fällt hier gar nicht schwer.

Schweigen im Kloster
Begriffe „Retreat“, „Wellness“ und „Work-Life-Balance“ klingen neumodisch, das Konzept dahinter ist alt. Um den Alltag eine Weile hinter sich lassen, haben Klöster früher ihre Türen geöffnet und Einkehr in die Stille geboten. Einige tun das heute noch. Das Kloster Stift zum Heiligengrabe bei Wittstock beispielsweise, eines der am besten erhaltenen Klöster Brandenburgs. Ein beeindruckender Gebäudekomplex aus Kirche, Kapelle, Abtei und Wohngebäuden aus Feld- und roten Backsteinen, teilweise Efeu-berankt. Die ältesten Teile stammen aus dem 13. Jahrhundert. Seit der Gründung als Zisterzienserinnenkloster im Jahr 1287 haben hier immer Frauengemeinschaften gelebt, seit 1548 protestantische. Selbst zu DDR-Zeiten war das Kloster aktiv, dank einer Gruppe Diakonissinnen, die aus Schlesien geflohen waren und hier ein Heim für Behinderte betrieben. Das Kloster bietet ein umfangreiches Programm von Qi Gong, über Biografisches Schreiben bis zum Wildkräuterwochenende. Wer Die Trost sucht, Ruhe oder gar sich selbst kann im Rahmen des „Mut zur Lücke“-Angebotes, das sich speziell an Frauen richtet, eine Weile im Kloster wohnen. In dem kleinen Fachwerkhaus, „Rosenhaus“ genannt oder im Dormitorium. Die Zimmer im zweiten Stock der Abtei sind komfortabel – dank Spenden und Mitteln der Deutschen Stiftung Denkmal konnte das Kloster in den letzten Jahren renoviert werden. Vom Fenster aus geht der Blick in den Klostergarten und auf die Kapelle, vom Flur aus sieht man in den Hof und auf den vollständig erhaltenen Kreuzgang.
Einkehr in die Stille klingt gut, ist aber zunächst einmal gar nicht so einfach. Wenn es außen herum ruhig wird, die Ablenkung – und am besten auch das Handy – fehlt, wird es nämlich im Inneren manchmal laut. Gedanken, Gefühle, Erinnerungen machen sich bemerkbar, für die Alltag kein Platz ist, darunter auch Unangenehme, mit denen man sich lieber nicht beschäftigen würde. Man kann das einfach geschehen lassen oder begleitende Gespräche mit einer Seelsorgerin führen.
Mittags und Abends rufen die Glocken zur Andacht in die Kapelle mit bunt bemalten Wänden und geschnitztem Chorgestühl.
Im hinteren Teil der Kapelle ist der Eingang zum Grab, das dem Kloster den Namen gab.
Es gibt viele Gründungslegenden. Eine erzählt vom Diebstahl einer Hostie, die daraufhin zu bluten anfing und hier begraben wurde. So sah gelungenes Tourismusmarketing im Mittelalter aus – Heiligengrabe wurde dank des vermeintlichen Wunders zur Pilgerstätte.
Nach ein paar Tagen und vielen Stunden Spazierengehen durch den blühenden Klostergarten oder, durch Wald und über Felder, die das Kloster umgeben, wird es auch im Inneren still. Ein wohltuendes Gefühl. Und ein Booster für die grauen Zellen:
Forscher haben den Einfluss verschiedener Geräusche auf die Gehirne von Mäusen untersucht und dabei herausgefunden, dass schon zwei Stunden Stille am Tag ausreichten, damit der Hippocampus neue Zellen bildete, jene Hirnregion, die maßgeblich für unser Gedächtnis und Gelerntes zuständig ist.