Der Mann im Flow
Das Vorderhaus an der Kastanienallee sieht aus, wie Berlin heute eben aussieht: teuer renoviert und langweilig. Nach hinten hin wird es spannend. Buntes Spielzeug säumt den Weg, gemischt mit Blumentöpfen und allerlei schrägem Zeug, das die Großstadt so angespült hat. Am Ende der langen Treppe hinauf in Thoas Lindners Wohnung ist in roter Schrift „Liebe sich wer kann“ an die Wand gemalt. Die Wohnung selbst sieht aus wie eine begehbare Installation, überall gibt es Interessantes zu sehen: Skulpturen aus Puppenköpfen, eine Sammlung von beschrifteten Holzobjekten und Pappkarten, im hinteren Bereich Holzhütten zum Schlafen für ihn und seine zwei Kinder. Dazwischen Shirts und Hoodies seines neuen Labels „The Tribe“, die Lindner hier in der Wohnung mit Schriftzügen bedruckt. Er macht Mode und Skulpturen und schreibt Gedichte, die oft nur aus sehr wenigen Worten bestehen. Und sich daher auch recht gut auf T-Shirts drucken lassen. „Hope is the new dope“ steht da beispielsweise, „We are one“ oder schlicht „Universe“.
Soweit es geht, verwendet Lindner Bio-Baumwolle, ein Teil der Erlöses wird an gemeinnützige Organisationen gespendet. Mit The Tribe trifft der Designer das Lebensgefühl des „Stammes“ junger und nicht mehr ganz so junger Großstädter, die bewusst leben, sich für Yoga, gesunde Ernährung und Spiritualität interessieren, ohne dabei auf Spaß und Lifestyle verzichten zu wollen. „Ich glaube, dass da gerade eine große Bewusstseinsveränderung stattfindet, dass das eine ernst zu nehmende Bewegung ist.“ Eine Bewegung, die er mit The Tribe einkleiden kann. Die Teile kosten zwischen 15 und 150 Euro, eine Kooperation mit einem großen Yogastudio läuft bereits.
Thoas Lindner hat The Tribe dieses Jahr gegründet, er wollte Produkte entwickeln, die einfach funktionieren, sich leicht vermarkten lassen.
Die fantastischen Kreationen sind eher Kunstwerke als Kleidungsstücke
Das gilt für die Teile aus Lindners anderer Kollektion TL eindeutig nicht. Die fantastischen Kreationen aus Seide und Jersey, verziert mit Kordeln, Stickereien und Federn, die Masken und Kopfputze aus Leder und Strass sind eher Kunstwerke als Kleidungsstücke. In den Wochen vor dem Burning Man Festival in Nevada, bei dem die Besucher sich mit extravaganten Looks gegenseitig überbieten, steigt die Nachfrage, ansonsten beliefert Lindner mit TL Stylisten und stattet Videoproduktionen aus. Kunstwerke auf der einen Seite, gut verkäufliche Mode auf der anderen und durch Online-Shops möglichst wenig Abhängigkeit von Händlern – so sieht das aktuelle Konzept des Designers aus, der mit seinen fast 20 Jahren Berufserfahrung in Berlin als Veteran der Modeszene gelten kann.
In seinem früheren Leben hat Thoas Lindner versucht, beides zu verbinden. Gemeinsam mit der Kostümbildnerin Maria Thomas, Mutter seines ersten Kindes, führte er das Label Butterflysoulfire, über viele Jahre eines der Aushängeschilder der aufblühenden Branche. Anfang des Jahrtausends als wild-buntes Experiment gegründet, entwickelten Lindner und Thomas über die Jahre einen charakteristischen Stil, der weltweit ankam: tragbare Avantgarde, mit raffinierten Schnitten, hochwertigen Materialien und Berlin-typischer Straßentauglichkeit. 2009 wurde der Butterflysoulfire-Laden in der Mulackstraße eröffnet, der so gut lief, dass die Designer sich leisten konnten, ihre Kollektion in Paris zu zeigen. Mit Erfolg: 2012 hatte Butterflysoulfire 60 Händler weltweit und drei Festangestellte. „Wir haben unsere Träume verwirklicht. Wir wurden international wahrgenommen, haben bei Seven in New York verkauft und einen Exklusivdeal mit einem Riesenladen in Hong Kong abgeschlossen“, sagt der Designer, der seit fünf Jahren nur noch Weiß trägt.
„Wir haben zwar viel Umsatz gemacht, aber hängen geblieben ist im Grunde nichts“, sagt Lindner
Richtig gut fühlte sich das aber gar nicht an. „Es war Stress pur. 25 000 Euro Fixkosten im Monat, die Verantwortung für die Angestellten, da hatte ich wirklich schlaflose Nächte. Wir haben zwar viel Umsatz gemacht, aber hängen geblieben ist im Grunde nichts“, sagt Lindner. Die Beziehung zu Maria Thomas ging in die Brüche und Lindner stellt fest, dass das, was ihm am wichtigsten war, auf der Strecke blieb: die Kreativität. „Im Grunde ist das verrückt: zwei Monate im Jahr bist du verpflichtet, kreativ zu sein, und die restliche Zeit darfst du es nicht, weil du dich um alles andere kümmern musst.“ Als dann 2013 sechs Händler die bestellte Ware nicht zahlten, hatte Butterflysoulfire auf einen Schlag 60 000 Euro Umsatzausfall. „Wir sind vom höchsten Punkt direkt in die Pleite geschlittert.“
Damit ging es Thomas und Lindner wie vielen Berliner Designern. Die Erwartungen, die an sie gestellt werden, sind ebenso hoch wie unerfüllbar. Sie sollen sprudeln vor originellen Ideen, die aber gleichzeitig schön tragbar sein sollen. Und natürlich gut verkäuflich. Und Produktion, Kommunikation und Vertrieb müssen sie auch können. Das alles ohne professionelle und finanzielle Unterstützung. Keiner würde von einem Ingenieur, der einen neuen Hybridmotor entwickelt, erwarten, dass er sich nebenbei um Vertrieb und Marketing kümmert.
In den letzten Jahren ist die Situation nicht einfacher geworden, ist Lindner überzeugt. Für das, was Butterflysoulfire gemacht hat, gibt es seiner Meinung nach keinen Platz mehr. „Avantgarde-High-End-Basics braucht keiner mehr.“ Es gibt einfach zu viele große Label wie All Saints, die genau diesen Stil bedienen. Als kleines hat man da keine Chance. „Alle wollen Rick Owens sein, aber der Markt ist so unglaublich satt.“
Trotz allem ist Lindner zuversichtlich. Er macht, was er will, und sucht sich seine Nischen. Ideen zu entwickeln und umzusetzen macht ihn glücklich. Und auch, wenn das mit dem Lebensunterhalt nicht immer leicht ist, ist er dankbar dafür, nicht Sklave eines Unternehmens oder einer fremden Idee zu sein. „Letzten Endes ist es so: Ich muss kreativ sein, Stillstand gibt es bei mir nicht. Es geht immer weiter.“