Die Entdeckung der Langsamkeit

Wir sitzen mit gestreckten Beinen auf der Matte und beugen uns nach vorne. Die sitzende Vorbeuge „Paschimottanasana“ ist eine klassische Yogaübung. Während aber in den meisten Yogaklassen das Ziel formuliert wird, die Nase mit geradem Rücken auf dem Schienbein abzulegen, manche Lehrer sogar mit kräftigem Druck nachhelfen, legen wir Arme und Stirn gemütlich auf einem großen Kissen ab. Der Rücken ist dabei locker gebeugt. Wohlige Seufzer hallen durch den ansonsten stillen Raum. Dies ist eine etwas andere Yoga-Klasse. Yin Yoga heißt der Stil, der immer mehr Zulauf bekommt. Hierbei werden einfache Haltungen im Sitzen oder Liegen für drei bis fünf Minuten gehalten. Die Muskeln bleiben dabei vollkommen entspannt. Das soll dazu führen, dass sich Verhärtungen im Bindegewebe, in den den Faszien, lösen können. Entwickelt wurde diese Yoga-Richtung von dem amerikanische Yogalehrer Paul Grilley, der sich von Martial Arts-Meister Paulie Zink abgeschaut hatte, wie man beeindruckende Beweglichkeit erreicht.
Der Begriff ‚Yin’ steht in der chinesischen Medizin für das ruhige empfangende Prinzip, während ‚Yang’ das aktive, bewegliche, schnelle darstellt.
„Unser Alltag ist sehr Yang geprägt“, sagt Yin-Yoga-Expertin Katrin Knauth. „Das kostet viel Energie“. Knaut unterrichtet regelmäßig Klassen in Berlin, gibt Workshops und Fortbildungen. „Yin Yoga ist ideal zum Regenerieren. Es passiert auf energetischer Ebene sehr viel. Für mich sogar mehr als in der aktiven Praxis.“
Folgt man der chinesischen Medizin liegt das daran, dass die Lebensenergie „Chi“ durch Bahnen, Meridiane genannt, durch den Körper fließt. Wird der Fluss blockiert – zum Beispiel durch Verhärtungen im Bindegewebe – kommt es zu Erschöpfung, nach längerer Zeit zu Krankheiten.
Innere Ruhe versprechen die meisten Yogaangebote. Kaum eine Stunde vergeht, in der die Lehrerin nicht verkündet, dass der Atem das wichtigste sei. Aber wer kriegt es schon hin, sich auf den Atem zu konzentrieren, während er versucht, geschmeidig durch einen komplizierten Bewegungsablauf zu fließen, eine Minute im Liegestütz zu verharren und dabei noch so gut auszusehen wie die perfekt gestylte Frau auf der Nebenmatte?
Hier dagegen gelingt es. Wir sitzen immer noch vorgebeugt, es fühlt sich ewig an. Es gibt keine Ablenkung. Der Atem fließt ein. Wieder aus. Ruckelt da etwas in der Kehle? Kriege ich überhaupt richtig Luft? Und was ist das für ein komisches Ziehen in der rechten Hüfte? Ruhe geben, heißt nicht unbedingt Ruhe haben. „Das lange Halten der einfachen Dehnungen bedeutet in die Stille zu gehen. Das ist eine körperliche Stille, aber drinnen wird es laut“, erklärt Knauth. Was also zunächst so einfach wirkt, kann durchaus schwierig sein. Die Konfrontation mit sich selbst ist möglicherweise eine größere Herausforderung als der Unterarmstand. Jeder, der einmal versucht hat, zu meditieren, kann das bestätigen.
Dabei ist Meditation das eigentliche Ziel des Yoga. In den wichtigsten Yoga-Schriften wie Pattanjalis Yoga Sutras spielen die Körperübungen nur eine untergeordnete Rolle.
Sich selbst einmal zuzuhören mag nicht immer angenehm sein, dienst aber der Selbsterkenntnis, die auf lange Sicht eine gute Sache ist. Wer von allen Seiten mit Informationen überflutet wird, sollte sich auf sich selbst verlassen können.

Noch weniger als beim Yin Yoga tut man beim Yoga Nidra. Der „yogische Schlaf“ ist eine geführte Meditation im Liegen, bei der man die Aufmerksamkeit zunächst in systematischer Weise durch den Körper bewegt, dann werden Atem, Gefühle und mentale Muster wahrgenommen. Dabei kommt man in eine Art Trance, das Gehirn schaltet um in den hypnagogen Zustand, in dem bildhaftes Denken und intuitive Wahrnehmung gestärkt sind. Die Praxis ist nicht nur sehr regenerativ – eine Stunde Yoga Nidra soll so erholsam wirken wie vier Stunden Schlaf – man kann auch Zugang zu seinem Unterbewusstsein bekommen, lange Verdrängtes erkennen.
„Es erfordert schon ein Umdenken“, sagt Katrin Knauth. „Wir sind es alle gewohnt, ständig etwas erreichen zu wollen. Hier gibt es nichts zu erreichen.“