Eine Nacht im Meisterzimmer

Die schwere Stahltür öffnet sich in einen niedrigen neonbeleuchteten Gang, die rohen Betonwände sind dicht mit Graffiti bemalt. „Even a fart can’t exist without art“ verkündet da jemand, der sein Werk mit wordcobain signiert. Sehr passendes Motto für diesen Ort, wie sich herausstellen wird. Am Ende der steilen Treppe öffnet sich eine weitere Stahltür in einen fensterlosen Raum, in dessen Mitte eine Tischtennisplatte steht. Bereits der Weg ins Zimmer macht macht neugierig. Auf dem sechs Hektar großen Gelände der ehemaligen Baumwollspinnerei in Leipzig Plagwitz mit ihren vier Fabrikhallen und diversen Nebengebäuden gibt es unendlich viel zu entdecken.
Trotz umfassender Sanierung in den letzten 20 Jahren ist der rohe Charme des Unfertigen erhalten geblieben. Hinter jeder Ecke wartet eine Möglichkeit.
Der Nummerncode öffnet die Tür ins Meisterzimmer No. 1, das die Größe einer Jugendherberge hat. Vielleicht finde ich auf die Schnelle ein paar Leute für eine spontane Party. Macht man aber ja zurzeit nicht. Daher genieße ich einfach den vielen Platz ganz für mich alleine.
Acht Schlafplätze stehen zur Verfügung, einer hoch oben auf einer hölzernen Empore. Da ich oft aufwache, spiele ich kurz mit dem Gedanken, sie alle durchprobieren. Das lasse ich dann aus Rücksicht gegenüber dem Personal doch sein. Es gibt eine Küchenzeile mit sechs Waschbecken, einen langen Tisch, einen Wohnbereich mit weichen Sofas aus DDR-Zeiten, beleuchtet von Hängeleuchten mit bunten Stoffschirmen. Durch riesige Fenster fällt der Blick auf still gelegte Schienenstränge im groben Pflaster des Hofes und ein Stück Wiese, auf dem im Sommer Stühle für das Open-Air-Kino aufgereiht werden. Im lauen Wind Fahnen, auf die Schwarz-weiß-Fotos gedruckt sind – textile Installationen von Carina Brandes.

Anfang der 1990er-Jahre hatten mehrere junge Künstler hier ihr Atelier, darunter Manfred Mühlhaupt, heute Web-Designer und Betreiber der Pension ‚Meisterzimmer‘. „Hier hatten wir Gelegenheit, alles und uns auszuprobieren. Wir konnten die Räume nutzen wie wir wollten: zeichnen, malen, bauen, spinnen und frei sein“, so Mühlhaupt. (wie alt heute?) Es war die Zeit, nach Stilllegung der Baumwollproduktion, als immer mehr Künstler herzogen, Werkstätten, Cafés und der Club Bimbotown, in dem Aktionskünstler Jim Whiting skurrile Multi-Media-Installationen und Partys inszenierte. Während man der Akrobatik-Show zusah, konnte es passieren, dass der Barhocker plötzlich zu hüpfen begannen oder das Sofa die Sitzenden verschlag.

Ab 2001 war Mühlhaupt alleine übrig und als er schließlich 2008 nach Jena zog, kam er auf die Idee, den Raum gelegentlich an Leipzig-Besucher zu vermieten. Schnell war das Quartier so beliebt, dass weitere Zimmer hinzukamen. Inzwischen gibt es vier, jedes ganz unterschiedlich in Größe und Design, alle mit selbst gebauter Einrichtung und zeitgenössischer Kunst ausgestattet, mit riesigen Fenstern und Industriecharme. Rezeption gibt es keine, Fahrräder sind dafür inklusive.

An diesem spätsommerlich warmen Tag ist nicht viel los auf dem Gelände. Ein paar Touristen bleiben suchend vor Hauseingängen stehen, die meisten Ateliers und Galerien sind geschlossen. Aufgrund von Corona musste auch der geplante Rundgang, der sonst Scharen in die Alte Spinnerei lockt, entfallen. In der Galerie Eigen + Art werden gerade die großflächigen Gemälde von Uwe Kowski abgehängt. Die Galerie, 1983 von Henry Lybke in seiner Wohnung gegründet, war eine der ersten, die Anfang der Nullerjahre hierherzog, ebenso der bekannteste vertretene Künstler Neo Rauch, einer der Begründer der Leipziger Schule. 1992 eröffnete die Dependance in Berlin.

Auch ohne Atelierbesuche gibt es jede Menge Kunst zu sehen, seien es phantasievolle Wandverzierungen oder die Freiluftgalerie an der Friedhofsmauer am Hinterausgang des Geländes.
Geöffnet hat das „Archiv Massiv“ direkt am Haupteingang des Geländes, das die Geschichte der Spinnerei mit vielen alten Fotos und Dokumenten dokumentiert. 1884 wurde die Spinnerei gegründet und wuchs in den folgenden 25 Jahren zur größten in Kontinentaleuropa – mit eigenem Bahnanschluss, Wohnhäusern, Nutzgärten und einer Badeanstalt für die Arbeiter.

Außerdem einer Katholischen Kirche, kamen doch viele der Arbeiterinnen aus Schlesien ins protestantische Leipzig. 240.000 Spindeln waren im Einsatz, einige davon sind heute noch zu besichtigen. Zeitweise gab es sogar eine eigene Baumwollplantage im heutigen Tansania. Im Jahr 2000 wurde die Produktion, die keinen Gewinn mehr erwirtschaftete, von der Treuhand abgewickelt.
Die Spinnerei war Teil des einst größten deutschen Industriegebiets gegründet von Pionier Karl Heine, der Ende des 19. Jahrhunderts in den Dörfern Plagwitz und Lindenau im Westen von Leipzig den Bauern große Flächen abkaufte, eine Bahnverbindung baute und mit einem Kanal eine direkte Schiffsverbindung in die Elbe schuf – ideale Bedingungen für junge Unternehmen, die sich denn auch in großer Zahl niederließen.

Die Bombardierungen im zweiten Weltkrieg überstand das Viertel ziemlich unversehrt, man mutmaßt, dass die Bomberpiloten die grün bewachsenen Dächer der Fabriken für Wiesen hielten. Zum Ende der DDR waren allerdings die meisten Gebäude so marode, dass der Leipziger Chefarchitekt Dietmar Fischer in einem Fernsehbeitrag für Abriss plädierte. „Dort sind die Umweltbedingungen so schlecht, dass es verantwortungslos wäre, das Wohnen auf lange Sicht beizubehalten.“

Zum Glück hat man nicht auf ihn gehört. Der Leipziger Westen wurde Außenstelle der Expo 2000 und Vorzeigeprojekt gelungener Sanierung mit vielen Industrieorten, die zu Kulturorten wurden. Im Kunstkraftwerk kann man noch bis Ende Januar 2021 in die Van Gogh-Experience eintauchen. 24 Laserbeamer projizieren die Werke des niederländischen Künstlers in hoher Auflösung an die acht Meter hohen Wände, unterlegt vom eigens komponierten Soundtrack.
Im Tapetenwerk kleine Galerien und Buchdruckwerkstätten besuchen, im Restaurant Kaiserbad in der ehemaligen Eisengießerei Westwerk asiatische Nudelbowls, gute Burger oder gebratenen Zander essen.

Die grünen Ufer des Kanals laden zum Spazierengehen ein, der Kanal selbst zum Paddeln. In der Karl-Heine-Straße bevölkern junge Menschen mit Kindern und Hunden Eisdielen, Cafés und kleine Läden. Besonders guten Kaffee gibt es im italienischen Feinkostcafé (Karl-Heine-Str. 6) Dipasquale, hübsche Wohnaccessoires und Papeterie made in Leipzig im Hafen (Karl-Heine-Str.75. Und Platz für Neues gibt es auch noch jede Menge. Zum Beispiel auf dem ehemaligen Werksgelände der Maschinenfabrik Rudolf Sack, wo noch zur Jahrtausendwende Roggen angebaut wurde. Hier ist zurzeit noch eine große Brache.

Neueste Attraktion des Viertels ist die Kantine des Kranherstellers Kirow, nur wenige Meter von der alten Spinnerei entfernt. Aus der Backsteinfassade der Fabrik wächst eine Kugel aus Glas, die im Frühjahr vollendet wurde. Es handelt sich dabei um einen der letzten Entwürfe
des brasilianischen Star-Architekten Oscar Niemeyer, gestorben 2012, Begründer der brasilianischen Moderne, der zahlreiche inkonische Gebäude in der Hauptstadt Brasilia entwarf, heute Teil des Weltkulturerbes. Unter der Woche zwischen 12 und 13 Uhr können hier auch Nicht-Mitarbeiter einkehren.

Am Abend wird es in der Spinnerei ganz ruhig. Man kann sich ans Fenster stellen und der Sonne beim Untergehen zuschauen, in der Hand Rhabarberschorle oder Rosé, die im Kühlschrank bereit liegen. Und wenn es dann dunkel ist, leuchtet die Betriebsuhr in den Nachthimmel wie ein kleiner Vollmond. Sie zeigt für immer acht Minuten nach zehn. Seit Schließung der Spinnerei stehen hier alle Uhren still.