Die Porzellan-Malerin
In der Werkstatt ist es still. Es ist nicht die Art von Stille, die von der Abwesenheit von Geräuschen herrührt – irgendwo dudelt ein Radio, in der Ferne hört man den Verkehr auf der Straße des 17 Juni. Es ist eher eine Art verdichteter Atmosphäre, aufgeladen von jahrzehntelanger konzentrierter Arbeit, vom ruhigen Atem der Malerinnen, den präzisen und immer gleichen Bewegungen ihrer Hände. Astrid Schulz sitzt an ihrem Arbeitsplatz in der KPM Porzellan-Manufaktur und verrührt mit einem kleinen Spachtel Farbpigmente und Lösungsmittel zu einer Paste. Das „K“ steht für „Königlich“, weil Friedrich der Große die Manufaktur 1763 kurz nach ihrer Gründung übernahm. Und im Wesentlichen arbeiten Astrid Schulz und die 40 anderen Malerinnen und Maler noch genau so wie ihre Kollegen vor 200 Jahren.
Durch große Fenster fällt Morgenlicht. In grob gezimmerten Regalen aus stehen Vasen, Kannen, Teller und Tassen in verschiedenen Stadien der Fertigstellung, Pappkartons, Bücher, Ordner. Die Arbeitstische aus abgeschabtem hellem Holz mit ihren Linoleum beschichteten Platten lassen an Schulräume denken, wie es sie heute kaum noch gibt. In der Luft hängt der Geruch von Terpentin. Astrid Schulz sitzt in Jeans und weißem Baumwollpullover auf einem Bürostuhl mit Rollen. Ihr violetter Schal passt farblich zur Ansteckblume, die welligen braunen Haare fallen ihr auf die Schultern. Auf dem Schoß hält sie eine große flache Schale. Sie nimmt mit dem Pinsel Farbe auf und zieht die Konturen eines Blütenblattes nach, das sie mit einem Fettstift vorgezeichnet hat. Die Gesten ihrer kompakten Hände mit den kurz geschnittenen Nägeln sind kräftiger und schneller als man es erwarten würde, wenn bedenkt wie millimetergenau hier jeder Strich sitzen muss. Ihrem Arbeitsplatz sieht man an, dass Astrid Schulz hier schon länger arbeitet. Lauter kleine Dinge haben sich angesammelt wie Strandgut. Ein Spielzeugauto, eine winzige Staffelei, ein Strauß Trockenblumen, ein Schokoladenmaikäfer, ein Thermometer und eine Pinselablage aus feinstem Porzellan – eigentlich ein Messerbänkchen. Seit 27 Jahren arbeitet sie hier. Als sie ihre Lehre begann, war sie 16. Wenn sie erzählt, meint man in ihrem Gesicht mit den großen Augen und den vollen Lippen das junge Mädchen sehen, das sie damals war. Das sich wünschte, irgendetwas Künstlerisches zu machen. Ihre Eltern brachten sie auf die Idee, es doch einmal bei KPM zu versuchen. Mehrere Tage dauerte das Auswahlverfahren, am Ende war sie eine von dreien, die ausgewählt wurde.
Drei Jahre lang übte sie zeichnen und malen, lernte wie man Farbe mischt, welche Konsistenz für welche Anwendung geeignet ist, wann das Pulver mit Terpentin angerührt werden muss und wann mit Nelken-, Anis- oder Lavendelöl. Lernte, wie sich die Farben beim Brennen verändern, dass Gold vor dem Brennen schwarz ist, damit man es beim Malen besser sieht. Verinnerlichte diesen einen Satz, den alle Handwerker der Manufaktur, egal ob sie an der Drehscheibe sitzen oder den Ofen bedienen, herunterbeten können wie ein Mantra: „Porzellan verzeiht keine Fehler“. Am Ende, nach dem letzen Brand, wird alles sichtbar, ein reparierter Henkel ebenso wie ein Fleck, den ein Staubkörnchen hinterlässt, das zu viel der feuchten Farbe aufgesaugt hat. Deshalb ist jedes makellose Stück ein kleines Kunstwerk, auf das sie alle stolz sind. „Die Identifikation mit der Arbeit ist schon sehr hoch“, sagt Schulz. Dabei ist es nicht immer leicht. Die meisten der Malerinnen – in dem ehemaligen Männerberuf arbeiten inzwischen fast nur noch Frauen – haben ausgeprägte künstlerische Fähigkeiten, aber wenig Spielraum. Zwar sind gewisse Variationen erlaubt, etwa was die Zusammenstellung eines Blumenstraußes angeht, aber im Grunde ist eigener Stil ist bei der Reproduktion teilweise Jahrhunderte alter Muster nicht gefragt. Der wird dann eher in der Freizeit ausgelebt. Schulz bemalt Tassen für Freunde, gestaltet Grußkarten, auch ihren auffälligen Silberring mit Lapislazuli und Peridot hat sie selbst entworfen.
„Ideen, die ich gerne umsetzen würde, gibt es schon viele“, sagt sie. „Aber meist bleibt es beim Phantasieren.“ Die Kollegin vom Nachbarplatz bringt Kaffee und sagt: „Die Ideen sprudeln bei ihr nur so aus dem Kopf“. Selbstverständlich wird der Kaffee hier nicht in Diddlmaus-Bürobechern serviert, sondern in feinen Tassen aus dem Service Kurland, dem 1790 entworfenen KPM-Klassiker. Manchmal probiert Schulz eine ihrer Ideen auf einem Stück Ausschussware aus. Und letztes Jahr schaffte es so eine Idee sogar in die Produktion: Das stilisierte Blütenmuster, das sie gerade malt, ist Entwurf ein Entwurf von ihr. „Das macht mich schon stolz“, sagt sie.
Nur selten kommt es vor, dass die Person hinter dem Handwerkskunstwerk hervor tritt. Einmal wurde Astrid Schulz nach Köln eingeladen zu einer Familie für die sie ein Service bemalt hatte. „Die haben mich ihren Kindern vorgestellt und gesagt: schaut, das ist die Frau Schulz, die unser Geschirr für uns gemacht hat.“ Sie hat der Familien Zeichnungen und Aquarelle von Gräsern und Insekten geschenkt, die sie zur Vorbereitung gemacht hatte. Wer bereit ist, mehrere hundert Euro für einen Teller auszugeben, muss nicht nur über ausreichend Geld verfügen. Er muss vor allem einen Sinn für die Aura haben, die ein solches Stück hat, für die Mischung aus Kunstfertigkeit, Tradition und Einmaligkeit – und es dennoch verschmerzen können, wenn mal ein Teil runter fällt. Denn das passiert natürlich –auch in der Werkstatt. „Das ist schon sehr ärgerlich, besonders wenn es schon fertig bemalt ist“, sagt Astrid Schulz und erzählt mit einem gewissen Gruseln in der Stimme von der Messe, bei der der „Schinkelkorb“, eines der aufwändigsten und teuersten Stücke aus dem Hause zu Bruch ging. Dabei war sie nicht, aber erfahren haben natürlich alle davon.
Der Sinn für Qualität, dieser besonderen Blick, den kann man auch im Privaten nicht ablegen. Schlecht gemachte Dinge mag Astrid Schulz ungern um sich haben.
Andersherum aber gibt es kaum Einflüsse. Die Außenwelt ist hier in der Werkstatt sehr weit weg. Manchmal schaut sie sich mit Kolleginnen 100 Jahre alte Fotografien aus den Werkstätten an. Zwar sind da ausschließlich Männer zu sehen, in Anzügen und weißen Kragen, „Aber wir arbeiten noch ganz genau so wie damals. Manchmal denke ich schon: die Welt da draußen läuft mir davon.“ Der Umgang mit modernen Medien zum Beispiel, den sie sich in ihrer Freizeit aneignen muss. Da geht sie aber lieber hinaus in die Natur. Beim Rudern wird sie die Anspannung in den Schultern und Nacken los, die der Beruf mit sich bringt und kann mal „ganz weit gucken.“ Ausgleich ist schon wichtig. Denn es ist nicht so, wie es dem flüchtigen Besucher erscheint, dass es in diesem Beruf überhaupt keinen Stress gibt. Zwar wurde der Akkord bereits vor über 10 Jahren abgeschafft, dennoch gibt es immer wieder Termindruck unter der die Qualität nicht leiden darf.
Auch gibt es für eine Porzellanmalerin kaum Aussicht auf berufliche Veränderung. Der Beruf ist gelebter Anachronismus. Regelmäßige strategische Wechsel des Arbeitsplatzes, die Lebenslauf und Gehalt aufpeppen, die vermeintlich unverzichtbaren Eigenschaften Flexibilität und Mobilität – all das ist hier nicht gefragt. Die wenigen Manufakturen, die es noch gibt, bilden Leute für den eigenen Bedarf aus – hier bei KPM sind es zurzeit drei. Die bleiben dann, wenn nicht wie bei Meißen im letzten Jahr aus Kostengründen Entlassungen anstehen, ein Leben lang.
Astrid Schulz legt den Pinsel ab. Auf der Kachel ist noch etwas Farbe übrig. Das macht nichts, die hält sich eine Weile.
FOTO: ACHIM HATZIUS