Nüchtern betrachtet

Nüchternheit. Das klingt nach dem kargen Interieur protestantischer Kirchen, weiße Wände und harte Bänke, zweckmäßig und leidenschaftslos. Nach Spaß jedenfalls nicht. Trinken und Trunkenheit gehören zur menschlichen Kultur. Die Geschichte unserer Spezies ist eine alko-holisierte seit unsere Jäger- und Sammler-Vorfahren die ersten vergorenen Früchte fanden. Der amerikanische Archäologe Patrick E. McGovern deutet das Sesshaftwerden in direktem Zusammenhang mit dem Wunsch nach der systematischen Produktion alkoholischer Getränke. Der Rausch scheint ein grundlegendes menschliches Bedürfnis zu sein. Keine Gesellschaft ist bekannt, die ohne psychoaktive Substanz auskommt.

Doch formiert sich zwischen New York, London und Berlin gerade eine Bewegung freiwillig Nüchterner. Unter Hashtags wie #thesoberglow, #soberissexy oder #soberrevolution sammelt sich eine Art subversive Community. Dem vom britischen Gesundheitsministerium 2014 gestarteten Aufruf zum „dry january“ folgen inzwischen vier Millionen Menschen. Ähnlich viele dem australischen Pendant „sober october“. Die Bereitschaft, für eine gewisse Zeit alkoholfrei leben, scheint zu wachsen.

Dabei wird die Frage neu verhandelt, was eigentlich „normaler“ Alkoholkonsum ist. Nach Angaben der Weltgesundheitsorganisation trinken Deutsche über 10 Liter reinen Alkohols pro Kopf. Das ist mehr als das Doppelte des weltweiten Durchschnitts. Aber auch weniger als vor 40 Jahren. Nur drei Prozent der Erwachsenen verzichten grundsätzlich. Wir trinken zur Geburt und zur Beerdigung, um Erfolge zu feiern und Niederlagen zu verkraften. Wer mit Mineralwasser anstoßen will, läuft Gefahr, ein Suchtproblem unterstellt zu bekommen. Eine eigenwillige Betrachtungsweise, wenn man sie versuchsweise auf andere Drogen anwendet: „Heute keine Line? Bist du etwa kokainsüchtig?“

Als mäßiger Konsum gilt etwa bei Frauen 0,1 Liter Wein täglich. Laut Gesundheitsamt ist der vertretbar, aber nicht unschädlich. Er ist nur eben nicht ganz so schlecht wie 0,5 Liter Wein täglich. Alkohol schadet sämtlichen Organen, greift die Darmflora an, fördert Gewichtszunahme, Depressionen, Schlafstörungen und Krebs. Bei nur 0,2 Litern Wein pro Tag steigt das Brustkrebsrisiko um 40 Prozent.

„Ich bin echt sauer, dass auf Wein und Bier keine Warnhinweise stehen müssen wie auf Zigaretten“, sagt Mirian Lamberth. Die jugendlich aussehende 50-Jährige mit dunklen Locken trinkt seit zweieinhalb Jahren keinen Alkohol mehr. Vor einigen Jahren hing sie ihre Karriere in der Modebranche, wo sie unter anderem als Kreativdirektorin für Tommy Hilfiger tätig war, an den Nagel, und lebt jetzt als Health Coach, Yogalehrerin und Heilpraktikerin wieder in ihrer Heimatstadt Berlin. Ausgelöst wurde die Entscheidung durch eine Brust-krebsdiagnose.

„Mir war schon eine ganze Weile bewusst, dass mit meinem Alkoholkonsum etwas nicht stimmt“. Rotwein zum Runterkommen nach einem hektischen Tag, beim Ausgehen, zum Gespräch mit Freunden – das gehörte für sie einfach dazu. Besonders dann, wie sie sich irgendwann eingestand, wenn sie sich nicht ganz wohl fühlte. „Mit einer halben Flasche Wein intus konnte ich es aushalten, dass mich jemand endlos zugelabert hat. Alle waren dann der Meinung: ‚Mensch, die Miri, mit der zu reden, ist so toll‘ und haben richtig abgeladen. Während ich mich am nächsten Tag gefragt habe, warum ich mich nicht gut fühle.“

Alkohol habe ihr geholfen, den oft stressigen Alltag mit Job, Partner und vier Töchtern zu bewältigen. Ohne zu trinken, sei sie viel unduldsamer geworden. Das findet sie gut: „Es ist doch ok, wenn etwas zu viel ist oder Angst macht. Ich denke jetzt eher darüber nach, wie kann uns als Frauen verdammt nochmal mal geholfen werden, dass wir nicht so viel saufen müssen, um die Belastungen unseres Alltags und die hohen Ansprüche auszuhalten, die wir an uns stellen!“

Bei ihren Instagram-Followern und den Hörern ihres Podcasts „Heiliger Bimbam“ kommen solche Botschaften nicht immer gut an. Posts zum Thema Nicht-Trinken werden kaum jemals geliked. „Ich bin zum Spiegel geworden, in den kaum einer reinschauen will“, findet Lamberth.

Wer sich vornimmt, mal aufzuhören oder weniger zu trinken, das nicht durchhält und dann anfängt, zu googeln, stellt fest, dass gängige Definitionen nicht unbedingt Klarheit verschaffen. Laut WHO ist alkoholabhängig, wer nicht in der Lage ist, seinen Alkoholkonsum willentlich zu steuern. Ist dieses Kriterium erfüllt, wenn ich mir an einem Tag vornehme, am nächs-ten keinesfalls zu trinken und es dann doch tue? „Die Grenze, an der der Genuss aufhört und Sucht anfängt“, warnt die Weltgesundheitsorganisation, „ist fließend.
„Trinken Sie, weil es Ihnen schmeckt oder wegen der Wirkung?“ wird man in gängigen Selbsttests gefragt. Ganz ehrlich: Wer kann das eindeutig unterscheiden?

Die Organisation der Anonymen Alkoholiker definiert Alkoholiker als Menschen mit angeborener Krankheit, süchtig quasi bevor sie auch nur einen Schluck getrunken haben. Und auch dann noch, wenn sie seit 20 Jahren trocken sind. Menschen, die überhaupt nicht trinken, können also Alkoholiker sein, während andere, die vier Flaschen Wein in der Woche leeren, keine wären.

Diese Vorstellung zunehmend in Frage gestellt. Etwa in dem man ein nüchternes Leben nicht als Krankheit sieht, sondern auf die positiven Aspekte blickt: Keinen Kater, mehr Energie, erhöhte Leistungsfähigkeit, bessere Gesundheit etwa.

Diesen Ansatz verfolgt das englische Online-Programm „One Year no Beer“, das inzwischen mehr als 70.000 Mitglieder hat. Für 250 Pfund im Jahr gibt es tägliche Information und Motivation in Mails und Videos. Für nicht ganz so Entschlossene sind 28- oder 90-tägige „Challenges“ im Angebot. „Es ist unsere Mission, Menschen dabei zu helfen, ihre Beziehung zum Alkohol zu verändern“, sagt Gründer Ruari Fairbairns, „was bei den meisten dazu führt, dass sie ihr Leben ganz grundsätzlich verbessern.“ Teilnehmer lernen, wie Konditionierung funktioniert – „Die Sonne geht unter, ich brauche einen Drink“ – und wie wichtig es ist, alte Gewohnheiten durch neue zu ersetzen. Sie lernen, dass es sinnvoll ist, einen Plan zu haben für den Moment, in dem ein Kumpel mit einer Flasche Wein vor der Tür steht oder eine Hochzeitsfeier ansteht. Und sie werden dazu ermutigt, sich mit unangenehmen Themen auseinanderzusetzen, die sie eigentlich lieber betäuben würden.

„Zunächst habe ich auf Alkohol verzichtet, weil ich mein Leben verbessern wollte. Jetzt ver-zichte ich, weil ich ohne Alkohol tatsächlich ein besseres Leben habe,“ schreibt ein Mitglied in der Facebook-Gruppe. Die ist das heimliche Herzstück des Programms. Mit großer Ehrlichkeit teilen Menschen aus aller Welt Erfahrungen und Schicksalsschläge, Erfolge und Rückfälle. M. schreibt über die ständige Angst um ihren 12-jährigen Sohn, der an einer seltenen Erbkrankeit leidet und wie stolz sie darauf ist, dass sie es seit zwei Monaten schafft, diese Angst nicht mehr mit ein paar Drinks zu betäuben. T. schreibt, wie sehr er sich dafür schämt, dass er Wodka vor seiner Frau in der Garage versteckt und manchmal heimlich trinkt. „Danke, dass Du so ehrlich bist“, kommentiert jemand dazu. Und „Sei stolz auf das, was du schon geschafft hast!“ Nachdem ihr Mann sie verlassen hat, postet B., ist jetzt auch noch ihr Hund gestorben. „Du schaffst das!“ wird sie ermutigt.

Was auch viel diskutiert wird, sind Bücher, die beim Aufhören helfen, „Quit Lit“ genannt. Viele funktionieren wie der Klassiker des Genres „Endlich ohne Alkohol“ von Entwöhnpapst Allen Carr: Mit einer gewissen Penetranz wird ausgeführt, dass Trinken ungesund ist und es sich bei Geschmack, Stimmungsaufhellung, Spaß um Illusionen handelt. Wer das einmal erkannt hat, will gar nicht mehr trinken, so Carr. Interessanter ist Holly Whitakers „Quit like a Woman“, in dem die ehemalige Tech-Consulterin und Gründerin des Online-Entwöhnprogramms „The Tempest“, weibliches Trinkverhalten aus feministischer Perspektive untersucht. Frauen, so ihre These, müssen jedenfalls nicht, wie bei den Anonymen Alkoholikern üblich, auf ihre Machtlosigkeit hingewiesen werden, sondern sollten sich, ganz im Gegenteil, selbst und gegenseitig dazu ermächtigen, sich nicht zu betäuben. In „Die Klarheit“ schreibt die amerikanische Schriftstellerin Leslie Jamisons nicht nur ehrlich über ihre eigene Sucht und Genesung, sondern auch Leben und Werk schreibender Trinker von Raymond Carver und John Berryman bis Jean Rhys untersucht und analysiert den Mythos glorifizierter Dysfunktion.
„Es hilft mir ganz enorm, Teil dieser Gruppe zu sein“, sagt Ben Banks. Der 35-jährige Londoner, der für die Kinderhilfsorganisation Barnardo‘s Programme entwickelt und Fundraising betreibt, bemüht sich seit einigen Jahren, seinen Alkoholkonsum zu reduzieren. Früher, erzählt er, trank er täglich, jedes Wochenende bis zur Besinnungslosigkeit. Freitags fing er direkt nach der Arbeit an, manchmal sogar schon dabei. Wenn er im Club ankam, war er meist schon betrunken, dennoch ging es weiter. „Ich würde gerne komplett aufhören, weil mir das Trinken definitiv nicht guttut und ich denke, ich bin auf einem guten Weg.“ Obwohl er noch gelegentlich trinkt, findet er es toll, dass er in der Gruppe andere durch ermutigende Kommentare unterstützen kann. „Das gibt mir viel Kraft.“ Vieles in seinem Leben hat sich gut entwickelt, erzählt er. Er kann sich besser konzentrieren, ist deutlich weniger angespannt, viel effektiver im Job.

Zurzeit, während des Lockdowns, fällt es ihm leicht, seine Abstinenzvorsätze einzuhalten, da er zu Hause nicht in Versuchung kommt. „Aber ich war immer viel in Clubs unterwegs und ein Großteil meiner Freundschaften sind im Zusammenhang mit Alkohol entstanden. Ich kann mir noch nicht so richtig vorstellen, wie es ohne sein soll und ob die Freundschaften Bestand haben.“ Im Leben junger Männer, ist er überzeugt, spielt das Trinken eine wichtige Rolle. „Wir sind nicht gut im Reden. Wir treffen uns nicht auf einen Kaffee, sondern im Pub und brauchen das Bier, um die Befangenheit loszuwerden.“

Im Gegensatz zu den Anonymen Alkoholikern oder der Straight-Edge-Bewegung der 1980er Jahre geht es bei OYNB nicht unbedingt darum, komplett zu verzichten. Viele machen immer wieder mal für einen oder drei Monate mit und loten so ihr Verhältnis zum Alkohol aus.

Im Augenblick fallen die selbstgewählten Nichttrinker statistisch kaum ins Gewicht. Weltweit wächst der Alkohol-Konsum stetig, insbesondere in Ländern wie China und Indien, in denen mit dem Wohlstand zunehmend westlicher Lebensstil Einzug hält. Die Lobbyarbeit der Milliardenindustrie sieht man in Filmen und Fernsehserien. Der Biomediziner James D. Sargent von der Universität Dartmouth fand heraus, dass die Platzierung von Alkoholika in Filmen und Serien zwischen 1996 und 2015 um 96 Prozent zugenommen hat. Meist sind die Marken deutlich zu erkennen.

Könnte Alkohol dennoch einen „Zigarettenmoment“ erleben – also schlicht uncool werden?

Miriam Lamberth jedenfalls hält es für ein Missverständnis, dass wir, um gelegentlich einen veränderten Bewusstseinszustand zu genießen, zwingend Alkohol brauchen. „Ich habe Abende da bin ich bis vier Uhr unterwegs, komme nach Hause und habe das Gefühl: ‚Das war eine berauschende Nacht‘ – ohne dass ich etwas getrunken habe. Ich war, als ich mich noch mit Alkohol betäubt habe, definitiv langweiliger als jetzt.“